Die Nachricht, dass der Kanton Graubünden ehemalige Pflegende
dazu verpflichtet, sich registrieren zu lassen und sie notfalls auch für
Einsätze zu verpflichten, macht mich betroffen. Offensichtlich rechnet der
Kanton damit, in einen ernsthaften Notstand zu geraten. Nüchtern betrachtet, ist
es eine zivile Mobilmachung.
Für das Gesundheitspersonal bedeutet das
Krisenmodus. Weiterhin. Meine erste Reaktion darauf (für alle auf Twitter
nachzulesen) war Wut. Und unter der Wut ist Einsamkeit. Die Einsamkeit des
Gesundheitspersonals, die ich schon lange spüre. Sie wird sichtbar in den
Tweets von Ärzten und Pflegenden, die versuchen zu beschreiben, in welcher
katastrophalen Lage wir uns gerade befinden. Sie bekommen so wenig Gehör. Im Gegenteil,
einige werden verbal attackiert und bedroht. Weil alle genug haben von der
Krise, weil sie endlich Normalität wollen. Und auch ich wünsche mir nichts mehr
als ein Ende dieses Alptraums. Doch weg schauen ist für mich keine Option. Und
schweigen noch weniger.
Ich habe mir geschworen, ich gehe nicht schweigend
durch diese Pandemie. Und weil ich jetzt gerade die Kraft dazu habe, bin versuche
ich heute Stimme zu sein, für die, die gerade durch die 5. Welle gehen, Leben
retten, Sterbende begleiten, Leid lindern und weiter aufrecht stehen. Dieser
Text ist ein Tribut an euch alle, die ihr im Gesundheitswesen tätig seid, ein
Aufruf an die Politik endlich richtig hinzusehen und das Gesundheitspersonal
nicht weiter im Stich zu lassen. Und eine Hommage an das Lied, welches mich
immer wieder aufstehen lässt. Einige Zeilen dieses Songs nutze ich hier, um
meine Gedanken zu teilen. Ich gebe meinen Traum nicht auf, dieses Lied einmal
an einem Festival laut mit euch allen zu singen. Zur besseren Verständlichkeit
habe ich den Text von Bündnerdialekt auf Deutsch übersetzt.
«Leute wie wir, haben keinen Feierabend,
wir sind hier, wenn’s einschlägt»
Wenn die Arbeitszeit vorbei ist, einfach alles
fallen lassen und gehen? Im Gesundheitsberuf nicht drin. Und auch wenn wir
früher oder später nach Hause gehen, nehmen wir in unserem Herzen, unserem Kopf
so vieles mit.
Diese Pandemie bringt unser Gesundheitswesen an den
Anschlag. Die Frage, ob wir da mitmachen oder nicht, stellt sich nicht. Wir
sind in einer Pandemie, wir sind zuständig. Seit Beginn der Pandemie bin ich
mir dessen bewusst, und habe dazu auch «ja» gesagt. Doch wie ist das für die
Menschen, die sich einmal dafür entschieden haben, diesen Beruf zu verlassen?
Aus welchen Gründen auch immer. Sie werden jetzt gezwungen, da zu stehen, wenn
es einschlägt. Was macht das mit diesen Menschen? Können wir das verlangen?
«Kaffee im Pappbecher holen, Krone richten
und noch mal von vorn»
Für einige von uns gab es zwischen den Wellen Verschnaufpausen.
Wir konnten sogar mehr als nur einen Kaffee trinken, es gab wieder geregelte
Mahlzeiten, genügend Schlaf. Wir konnten beginnen das Erlebte zu verarbeiten.
Doch dann kam schon die nächste Welle und alles begann von vorne.
«Auch wenn es diesmal wirklich fordert,
wir sind hier, wenn nichts mehr geht.»
Mit jeder Welle sind wir erschöpfter, haben wir
weniger Reserve. Und dennoch ist aufgeben in der Situation keine Option. Das
lassen unsere Ethik und Moral nicht zu. Ich weiss, es gibt Stimmen, die sind
für Streiks, ich verstehe sie. Und gleichzeitig kann ich es nicht, weil ich die
Menschen, die mich brauchen nicht im Stich lassen kann.
«Uns interessiert nicht, was für Theorien
ihr euch bastelt, weil in der Praxis muss die Arbeit gemacht werden.»
«Alles nur Panik mache, es hat ja noch so und so
viel Platz auf Intensiv. Es trifft doch nur die Alten (über 50 Jährigen), die
Übergewichtigen, die Vorerkrankten.» Das sind Theorien, die vielleicht sogar
stimmen.
Aber wenn ich Patient:innen nicht mehr in Sicherheit
bringen kann, weil die Intensivstation um 3.00 morgens nämlich einfach voll
ist, dann interessiert mich die Statistik von gestern einfach nicht. Und wenn
jemand um sein Leben ringt, Angehörige vor Sorge nicht mehr schlafen, dann
interessiert mich weder sein Alter noch was für Risiken er hat. Dann ist da ein
Mensch, mit Liebsten, die ihn nicht verlieren wollen. Ein Mensch, der ein Recht
auf seine Würde hat. In der Praxis sind solche Aussagen zynisch. In der Praxis
sind solche Aussagen, ein Verschliessen vor der Realität.
«Und es ist nie genug, es wird immer
mehr»
Die Forderungen an das Gesundheitspersonal werden
tatsächlich immer mehr. Schon einmal wurde das Arbeitsrecht ausgehebelt.
Passiert das nochmal? Nochmal 12 Stunden Schichten? Auch ohne diese und auch
ohne Pandemie fordert der Alltag uns alles ab. Noch vor zwei Jahren gab es dieses
Krankheitsbild nicht. Und gerade auf der Intensiv binden diese Patient:innen
sehr viele personelle Ressourcen. Der Aufgabenberg, die Ansprüche an die
Pflegenden wächst, ein Fass ohne Boden.
Pflegende die aus dem Beruf ausgestiegen sind, haben
doch ihren Teil gegeben und geleistet, und jetzt ist das doch nicht genug?
«Es hört nicht mehr auf, kein Ende mehr
in Sicht»
Ein Marathon ohne zu wissen wo und wann das Ziel
erreicht ist, das ist diese Pandemie für mich. Ich hatte gehofft, dass wir es
bald erreichen. Dass wir einigermassen «heil» durch diesen Winter kommen. Doch
nun, schwappt die nächste Welle über uns.
«Wir geben alles und noch mehr für euch
da draussen»
Ja, es gibt ein «draussen». Auch wenn diese Pandemie
alle auf irgendeine Art und Weise trifft, sind die Gesundheitsberufe ganz
besonders betroffen. Für uns hat es keinen Lockdown gegeben. Für uns hat es
Personalengpässe, die keine Engpässe, sondern Löcher sind, gegeben. Wir haben
uns exponiert, teilweise infiziert. Und wir haben viel Leid erlebt und gesehen.
Auch ich bin manchmal «draussen». Was auf Intensiv abgeht, weiss ich nur von Erzählungen.
Ich kann nur ahnen, was es bedeutet, diese Schicksale live und in Farbe
mitzuerleben. Das einzige was ich kann, ist Zeugin sein. Anerkennen, was mir
erzählt wird.
«Es ist der Kampf gegen die Zeit und
verlangt die ganze Energie bis auf den Reservetank. Weil man keine Wunder
vollbringen kann, frisst es einem manchmal von innen auf.»
Schon in den ersten Wellen habe ich gewarnt: Wir
verlieren. Wir verlieren Pflegende/Ärzt:innen, nicht nur weil sie körperlich
nicht mehr können, sondern weil ihre Seelen schaden nehmen. Dafür habe ich Spott
geerntet. Dennoch ist genau das jetzt die Realität. In jeder Welle haben wir
Verluste gemacht. Wann wird sich daran etwas ändern?
«Wenn wir ‘s nicht machen, macht
keiner, wir sind Menschen, aber müssen unmenschliches leisten.»
Mitarbeiter:innen welche einen Einsatz in einem
Krisengebiet leisten werden nach einer gewissen Zeit wieder nach Hause geholt,
um Schaden vor ihnen abzuwenden. Mitarbeitende im Gesundheitswesen können nicht
«nach Hause geholt» werden. Denn wenn sie gehen, ist niemand mehr da. Und genau
darum ist für viele von uns aufgeben keine Option. Nicht jetzt.
«Jeder Mensch, verdient die Chance zum Heilen»
Über die Möglichkeit der Triage wurde schon viel
geschrieben. Aus meiner Sicht die Bankrotterklärung unserer Werte. Wollen wir
wirklich, dass jemand entscheidet, wer eine Chance «verdient» und wer nicht?
Und wollen wir diese Entscheidung tatsächlich unserem Gesundheitspersonal zumuten?
«Man hat uns Demut beigebracht, um zu
merken, wer für uns einsteht.»
Zugegeben, der Begriff Demut liegt mir ein bisschen quer im Magen. Zusammen mit unserem Verantwortungsbewusstsein ist sie der Faktor auf den sich die Politik bisher verlassen hat. Sie ist der Grund, weshalb Pflegende nicht streiken, sondern weiter machen. Doch unser Idealismus ist es auch, der uns befähigt hinzusehen, wer denn jetzt wirklich für uns einsteht.
Genau heute wurden erste Massnahmen zur Umsetzung der
Pflegeinitiative vom Bundesrat beschlossen. Es gibt Stimmen die sagen, dass die
Pflegeinitiative vom Volk nur wegen der Pandemie angenommen wurde. Und wenn es
so ist: Scheisse, das haben wir auch verdient!
Am 28. November 2021 ist die schweizer
Stimmbevölkerung für uns eingestanden, dafür bin ich dankbar.
Für uns selbst einstehen, dass dürfen wir Pflegenden
weiterhin lernen, auch ich. Nicht nur politisch, sondern auch in der
Gesellschaft.
Patricia Tschannen, Pflegehexe