Montag, 3. April 2017

Zu spät gestorben

Ich fordere Politiker immer wieder auf, sich den ethisch – moralischen Fragen im Gesundheitswesen zu stellen. Besonders wenn es um Sparmassnahmen geht, ist diese Auseinandersetzung zwingend. Hinter diesen Fragen, stehen Menschen und ihre Schicksale. Frau Frieden (Name erfunden, nicht geändert, ich weiss nicht mehr wie sie hiess, aber noch ganz genau, wie sie aussah) ist eines dieser Schicksale…

Zu spät gestorben
Es war an einem Samstag im Pflegeheim. Ich hatte am Vortag frei gehabt und erfuhr so erst an diesem Morgen, dass ein Eintritt kommen würde. Den spärlichen Unterlagen entnahm ich, dass Frau Frieden von Zuhause kommen, an Lungenkrebs litt und die Situation palliativ sein würde.
Um 10.00 brachte die Ambulanz (nein, das ist eigentlich nicht üblich), Frau Frieden auf die Station. Frau Frieden lag, vor Schmerzen stöhnend und nach Luft schnappend auf der Trage. Aufgrund ihrer schlechten Venenverhältnisse war es den Sanitätern nicht gelungen einen venösen Zugang zu legen, um der Frau etwas gegen die Schmerzen zu geben. Der noch liegende Port konnten sie mangels Material nicht anstechen. Subkutane Injektionen waren ihnen nicht erlaubt (ich weiss nicht, ob das heute noch so ist, aber damals war es so). So war Frau Frieden ohne adäquate Schmerzmedikation transportiert worden.
Frau Frieden selbst war kaum mehr ansprechbar, das Leiden und die Schmerzen waren ihr jedoch ins Gesicht geschrieben. Arztbericht war keiner vorhanden, einzig ein Notizpapier auf dem mit die Spitex aufgeschrieben hatte, wann Frau Frieden von ihnen das letzte Mal Morphin subkutan erhalten hatte. Ich stand also da, alleine auf meiner Wohngruppe, mit einer Patientin, die vor Schmerzen schrie und hatte null Verordnung, um dieser Frau zu helfen.
Ich rief also als erstes in der Gemeinschaftspraxis an, welche das (äusserst knappe) Einweisungszeugnis geschrieben hatte. Nein, der zuständige Herr Doktor habe seit heute Ferien. Auf mein insistieren, dass ich jetzt einfach einen Arzt ans Telefon brauche, wurde ich dann mit der Vertretung verbunden. Diese kannte den Fall natürlich nicht, liess sich aber erweichen, und verordnete mir das für die Patientin dringend notwendige Morphin. Jedoch in einer Dosierung, von der ich wusste, dass es ihr niemals  die furchtbaren Schmerzen nehmen würde. Nein, vorbei kommen könne sie nicht, sie habe die Praxis voll.
Ich fand schliesslich heraus, dass Frau Frieden bis vor kurzem auf einer Palliativstation hospitalisiert war. Um Informationen über die bereits bewusstlose Frau zu erhalten, rief ich dort an. Die Pflegefachperson kannte Frau Frieden und gab mir die private Telefonnummer ihres behandelnden Arztes auf der Palliativstation. Als sie den Namen nannte, fiel mir ein Stein vom Herzen. Es war Dr. Merlin (ja, er heisst wirklich so). Mit Dr. Merlin hatte ich schon einige Male bei Palliativsituationen zusammengearbeitet. Mit klopfenden Herzen, da ich ihn ja an seinem freien Tag störte, rief ich ihn an und schilderte die Situation. Und Dr. Merlin war mein und vielleicht auch Frau Friedens rettender Engel. Noch am Telefon verordnete er mir eine ausreichende Menge Morphin. Dann setzte er sich ins Auto und kam her.
Von ihm erfuhr ich dann, wie Frau Frieden in diesem desolaten Zustand auf meine Wohngruppe gelangt war: Frau Frieden war drei Wochen auf der Palliativstation gewesen. Nach dieser Zeit war jedoch die Kostengutsprache der Krankenkasse abgelaufen. Frau Frieden war also schlicht zu wenig schnell gestorben. Da Frau Frieden zu diesem Zeitpunkt noch einigermassen selbständig war, wurde sie mit Spitex nach Hause entlassen. Dort verschlechterte sich ihr Zustand innerhalb einer Woche so dramatisch, dass am Freitag notfallmässig ein Bett für sie gesucht werden musste. Die Krankenkasse wollte nach so kurzer Zeit keine Kostengutsprache für die Palliativstation machen, die Spitäler lehnten sie ebenfalls ab. Unsere Casemanagerin hatte Mitleid und nahm die Frau auf. Dies ohne zu wissen, wie schlecht es der Frau wirklich ging.
Dr. Merlin tätigte die für mich so wichtigen Verordnungen. Bevor er ging sagte er zu mir: „Sie dürfen mich jederzeit anrufen, wenn sie noch etwas brauchen, auch wenn Frau Frieden verstirbt, ich komme dann und stelle den Tod fest (dies muss bei jedem Menschen der verstirbt so sein). Frau Frieden hat es verdient, dass sich in ihren letzten Tagen noch jemand zuständig fühlt.


Frau Frieden verstarb nach wenigen Tagen, ohne noch einmal das Bewusstsein zu erlangen. Ihre Schmerzen konnten wir einigermassen lindern. Frau Frieden verliess diese Welt in einer ihr fremden Umgebung, umgeben von Menschen, die zwar ihr Bestes taten, um ihr ein würdevolles Sterben zu ermöglichen, die sie aber nicht kannte. Beim Gedanken daran kommen mir noch heute die Tränen. Es wäre anders möglich gewesen. Auf der Palliativstation, auf der sie drei Wochen gewesen war, hatte sie sich noch dazu äussern können, was sie sich wünschte, sie hatte Beziehungen zu den Pflegenden aufgebaut, es waren alle Verordnungen und alle Möglichkeiten da, um ihr Leiden zu gering wie möglich zu halten, aber weil sie nicht schnell genug gestorben ist, musste diese Frau unendlich leiden. Sie ist durch sämtliche Maschen des Systems gefallen, weil sie zu spät gestorben ist.  

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