Donnerstag, 30. Juni 2016

Wenn es für Exit zu spät ist oder wann endet die Lebensqualität

Meine Lieben!
Exit ist immer wieder ein Thema in den Medien. Die Meinungen gehen auseinander. Als Pflegehexe bin ich immer wieder mit dem Sterben konfrontiert. Ich möchte euch hier nicht meine Meinung kundtun, sondern meine Erlebnisse mit euch teilen. Und so erzähle ich Euch von Milo:

Wenn es für Exit zu spät ist oder wann endet die Lebensqualität

Diese Geschichte ereignete sich im Pflegeheim in dem ich mehrere Jahre arbeitete. Ich arbeitete mit chronisch kranken Menschen, die an einer schweren Erkrankung des Nervensystems litten. Von ihnen habe ich sehr viel gelernt, auch über mich. Der Name des Mannes ist selbstverständlich geändert.

Als Milo zu uns kam, war er noch recht selbständig. Seine Krankheit, war ihm jedoch schon anzusehen. Ich erhob seine Biografie. Auf meine Frage, wie er mit dem Wissen umgegangen sei, dass er die schwere Krankheit seiner Mutter geerbt haben könnte. „Ich habe einfach gelebt.“ war seine Antwort.
Und genau das hat er auch bei uns getan. Gelebt. Und er liess sich von niemandem daran hindern. Auch nicht von mir. Das war die erste Lektion die Milo mir erteilte: Egal wie eingeschränkt er war, er wollte die Verantwortung für sein Leben behalten. Und wenn er auf die Fresse fiel, fiel er eben auf die Fresse. Aber er lebte mit jeder Faser seiner Seele.

Wir sprachen auch über das Sterben. Schon bevor er zu uns kam, trat Milo Exit bei. Er werde fertig machen, wenn sein Leben nicht mehr lebenswert sei. Wann das denn für ihn sei, wollte ich wissen. Wenn er nicht mehr selbst rauchen könne, war die Antwort. Der Tag kam, an dem er seine Zigarette nicht mehr selbst halten konnte. Und er in seiner Kleidung ständig Brandlöcher produzierte. So oft wir konnten, halfen wir Milo, seine geliebte Zigarette zu rauchen. Wir richteten es ein, dass er bestimmt seine Morgenzigarette direkt nach der Körperpflege und Frühstück, sowie nach den Mahlzeiten rauchen konnte. Für Milo war das Lebensqualität und Exit für ihn kein Thema. Solange er noch essen könne, wolle er leben.

Milos Krankheit schritt weiter fort. Das Schlucken wurde für ihn immer schwieriger. Es gelang ihm nicht mehr, genügend Kalorien aufzunehmen. Er wurde immer schwächer. War jetzt der Zeitpunkt gekommen? Würde Milo jetzt nach Exit verlangen? Er diskutierte mit dem Professor, der ihn seit Beginn seiner Krankheit betreute, seine Möglichkeiten. Und entschied sich für eine PEG –Sonde, um so wieder genügend Kalorien aufnehmen zu können. Und nur noch das Schlucken zu müssen, was er wirklich mochte. Vor allem seinen Kaffee.

Eines Morgens, es war noch alles still auf der Wohngruppe, nur Milo war schon auf. Er war immer der Frühaufsteher. Ich hatte ihm schon beim Duschen geholfen und jetzt sass er in seinem Sessel und ich half ihm mit dem Kaffee. An diesem Morgen hatte er besonders Mühe zu schlucken. Immer wieder musste er husten, weil er aspirierte. Und da sagte er es: „Wenn ich den Kaffee nicht mehr trinken kann, dann will ich nicht mehr.“ Ich fragte nach: „Und dann?“ Er sagte nur „Exit.“

Schon bald kam der Tag. Und Milo verlangte danach, mit Exit zu sprechen, auch im Wissen, dass er den Freitod nicht bei uns würde durchführen können (Das Pflegeheim hatte sich schon Jahre davor entschieden, den Freitod mit Exit eines Heimbewohners nicht zu verhindern, jedoch die Räume dafür nicht zur Verfügung zu stellen).

Nun war das Thema auf dem Tisch. Wir besprachen uns im interdisziplinären Team und mit Milo. Auch ihm wurde schnell klar, der Weg mit Exit, war nicht mehr möglich. Er konnte weder ein Glas mit Medikamenten trinken noch eine Infusion selbst starten. Was nun?

Milo hatte schon mehrere Aspirationspneumonien hinter sich. Wir legten mit ihm zusammen fest, dass wir keine Infektion mehr behandeln würden. Er nur noch die Medikamente bekäme, die er benötigte, um sich wohl zu fühlen. Das war in Milos Sinn und er konnte sich mit dieser Vereinbarung einverstanden erklären.

Kurz nach diesem Gespräch bekam Milo hohes Fieber und mochte nicht mehr aufstehen. Ich informierte den Professor und Milos Angehörige. Jetzt war es soweit. Wir begleiteten Milo im Sterben. Jeder von uns Pflegenden kannte Milo sehr gut. Jeder von uns wusste, was er gerne hatte. Wir machten Mundpflege. Natürlich mit Kaffee. Dass er den Geschmack, seines Lieblingsgetränks noch lange wahrnehmen konnte. Während der Körperpflege lief das Radio, der Sender, den er immer hörte.

Nur wenige Tage später tat Milo seinen letzten Atemzug.

Wer definiert Lebensqualität und wie? Sie wird von jedem Menschen selbst definiert und sie verschiebt sich, je nach Lebenssituation. Das war wohl die grösste Lektion, die mir Milo erteilt hat. Dafür nochmals Danke, Milo.

In Liebe und Dankbarkeit


Madame Malevizia

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