Donnerstag, 12. Mai 2022

Eine pflegehexerische 12. Mai - Schrift

 

Foto Eve Kohler

Es ist der 12. Mai «Tag der Pflege». Der Geburtstag von Florence Nightingale. Sie gilt als Begründerin der modernen Krankenpflege. Es ist der Geburtstag einer Frau, die sich nicht mit einem langweiligen Leben als Tochter aus reichem Haus zufriedengeben wollte. Es ist der Geburtstag einer Frau, die Pflege zu einem ehrbaren Beruf machte. Das hat sie getan, weil ihr eines klar war: Jeden Depp von der Strasse an ein Krankenbett zu stellen, ist nicht im Sinne der darin liegenden kranken oder verletzten Personen. Sie hat erkannt, dass wirkungsvolle Pflege, eine Ausbildung benötigt. Sie hat die nötigen Eigenschaften von Pflegenden erkannt: Verlässlichkeit, Geduld, Geschick, Erfahrung, Beobachtungsgabe, schnelle Auffassungsgabe und Intelligenz. Einige dieser Eigenschaften sind lernbar. Andere haben mit Erziehung zu tun. Ebenfalls hat Florence erkannt, dass die Infrastruktur wichtig ist. Ausreichend und sauberes Material, hygienische Örtlichkeiten. Dafür hat Florence sich eingesetzt, das hat sie gefordert. Die Wirksamkeit ihrer Forderungen hat sie mit Statistiken belegt.

Ich bin Florence dankbar, dass sie den schönsten Beruf der Welt mitbegründet hat und meine Eltern nicht fürchten mussten, dass ihre Tochter in der Gosse landet, weil sie Pflegefachfrau wurde.

Darum ist der 12. Mai für mich ein Feiertag. Ein Tag an dem ich Florence gedenke und ein Glas auf diese, meine Heldin trinke. Ebenfalls treffe ich mich mit (hoffentlich) vielen Kolleg:innen auf der Strasse und mache darauf aufmerksam, dass wir auch heute nicht haben, was wir brauchen, um unseren Beruf ausüben zu können. Es fehlt an Grundlegendem. Es fehlt an ausreichend Pflegenden. Schon seit Jahrzehnten ist das so. Und wenig passiert. Warum? Weil genau diese Eigenschaften, die uns mitausmachen, Verlässlichkeit und Geduld, gegen uns verwendet werden. Zu viele Entscheidungsträger verlassen sich darauf, dass wir weiter machen, dass wir das drölfzigste Mal einspringen oder den Dienst mit zu wenig Personal durchziehen, ohne dass jemand dabei stirbt. Diese Haltung ist so unglaublich kurzsichtig und fliegt uns allen nach 2.5 Jahren Pandemie immer stärker um die Ohren. Noch mehr von uns mussten aufhören. Noch mehr von uns mussten die Basis verlassen, weil sie nicht mehr konnten. Auch für sie stehe ich am 12. Mai auf der Strasse. So darf es nicht weiter gehen! Dieses Spiel muss endlich beendet werden. Doch dieses Spiel müssen auch wir selbst mit beenden.

Wenn ich an Florence denke, sehe ich eine stolze Frau aus gehobenen Kreisen. Ich denke auch, dass sie recht ungemütlich werden konnte, wenn ihr etwas nicht gefiel. Und sie mit Hartnäckigkeit ihre Ziele erreichte. Sie hatte das, was ich Berufsstolz nenne. 

Foto Eve Kohler


Dazu möchte ich einige Worte direkt  an euch richten, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir brauchen den Berufsstolz, damit wir die Kraft finden das Spiel, welches mit uns gespielt wird zu beenden.

Immer höre ich, wie ihr sagt: « Ich bin ja «nur», in der Langzeitpflege, in der Psychiatrie, in der Rehab». Ich bitte euch, streicht das «nur». Gerade ihr, die ihr so sehr vom Fachkräftemangel betroffen seid, betreibt Hochleistungssport. Es gibt nichts Komplexeres als die Pflege und Betreuung von betagten Menschen. Wollte frau dort alle Pflegediagnosen stellen, die Liste wäre von hier zum Himalaya so lang. Ihr betreut nicht nur die Menschen in der Einrichtung, sondern auch ihre Angehörigen. Ihr begleitet auf dem letzten Lebensabschnitt, bis zum Tod. Macht das nicht klein. Ihr seid Pflegefachpersonen in der Langzeitpflege.

Als Psychiatriepflegefachpersonen begleitet ihr Menschen, die nicht dem «Muster» entsprechen, Menschen in Lebenskrisen. Und nicht selten geht es auch dort um Leben und Tod. Ihr seid da für diese Menschen in Situationen, in denen nicht einfach ein «Tablettli» hilft und alles ist wieder gut. Eure «Werkzeuge» sind Empathie, eure Sprache und euer Hintergrundwissen zu Themen sie Psychosen, Suizidalität, Trauma und noch vieles mehr. Macht das niemals wieder klein. Ihr seid Pflegefachpersonen in der Psychiatrie.

Als Pflegefachpersonen in der Rehabilitation begleitet ihr Menschen nach schwerer Krankheit, nach Unfällen. Ihr begleitet Menschen, die schon einen langen Weg hinter sich haben. Menschen, für die nach einem Unfall nichts mehr ist wie es war. Ihr geht mit ihnen den Abschnitt, in dem es darum geht, sich neu zurecht zu finden, wieder nach Hause gehen zu können. Dazu braucht es die Fähigkeit zu motivieren, es braucht das tägliche Üben von Fertigkeiten. Es braucht einen ganz langen Atem. Es braucht das Wissen, wie eine Rehabilitation sinnvoll geplant werden kann, es braucht das Wissen über Zielsetzung, Umsetzung, Planung. Sprecht nie wieder von «nur». Ihr seid Pflegefachpersonen in der Rehabilitation.

Und auch ihr, die ihr in Bereichen arbeitet, die etwas mehr Anerkennung erfahren. Sprecht niemals von «nur» Pflegefachperson. Ihr habt eine Ausbildung absolviert, die euch befähigt, da wo ihr seid, den Menschen, die es benötigen eine Hilfe zu sein. Ihr habt euer Handwerk gelernt, mit allem Wissen und Können, welches es dafür benötigt. Ihr seid Pflegefachpersonen. Ihr habt euch für einen der vielen Bereiche entschieden, weil ihr dort eure Stärken am besten entfalten könnt. Genau dort wo ihr seid, seid ihr grossartig. Und damit ihr eure Stärken weiter zur Verfügung stellen könnt, ist es so wichtig, dass ihr auf euch achtet. Auf eure geistige und körperliche Gesundheit. Und das nicht nur am 12. Mai, sondern immer. «Was nutzt ein Leuchtturm, wenn die die Lampe nicht mehr brennt?», Dieser Statz stammt von Liliane Juchli, einer weiteren Pionierin, in der Pflege. Zu viele von uns sind schon erloschen, seid es Euch wert, euer Licht zu hüten. Dazu gehört es, «Nein», zu sagen, wenn ihr «Nein», fühlt und zu sagen, was ihr braucht und Arbeitgeber zu verlassen, die euch das nicht geben. Dazu gehört es, auf die Umsetzung der Pflegeinitiative zu bestehen und den damit geschaffenen Rahmen in der Praxis einzufordern und zu leben.

Ich wünsche euch allen einen schönen 12. Mai und vergesst nicht heute ein Glas zu trinken, auf Florence, auf euch und auf uns Pflegende.

 

Patricia Tschannen,

dipl. Pflegefachfrau HF und Pflegehexe


Donnerstag, 31. März 2022

Augen auf

 


Wenn wir ihnen nicht widersprechen, werden Behauptungen zur Wahrheit. Und genau deshalb beziehe ich Stellung zu einem Gastkommentar, der plötzlich in meiner Timeline auftauchte. Geschrieben hat diesen ein Herr Manuel Ackermann, Leiter Public Affairs santésuisse. Was genau den Herrn dazu qualifiziert, über die Pflege zu sprechen, erschliesst sich mir nicht ganz, aber das muss es auch nicht. Jede:r darf seine Meinung äussern und das werde ich nun auch tun. Denn ich habe keine Lust mehr, dass jeder frisch fröhlich einfach irgendetwas behaupten kann, wenn es um de Pflegenotstand geht. Dabei beziehe ich mich auf folgenden Text:


"Pflege mit Augenmass weiterentwickeln - Gastkommentar

Die Covid - 19 Pandemie hat gezeigt, wie wichtig die Pflege für eine leistungsfähige Gesundheitsversorgung ist. Gefragt waren insbesondere hochqualifizierte Pfleger:innen in Berufen wie beispielsweise der Intensivpflege.

Manuel Ackermann, Leiter Public Affairs Santésuisse

Die grösste Herausforderung für die Pflege ist aber nicht die ausserordentliche aktuelle Krisensituation, sondern die demografische Entwicklung und der steigende Bedarf an zusätzlichem Personal in der Grundpflege. Ab 2030 wird mit einem Höhepunkt an Pflegebedürftigen gerechnet, darum werden wir in der Schweiz deutlich mehr Pflegepersonal benötigen. Zur Sicherstellung der Grundpflege sind insbesondere Fachangestellte Gesundheit und Pflegehelfer:innen SRK gefragt. Bei der Ausbildungsoffensive, die das Parlament beim Gegenvorschlag zur Pflegeinitiative ausgearbeitet hat, muss der Fokus auf die Ausbildung dieser Berufsgruppen gelegt werden. Die Ausbildungsoffensive soll nicht nur zu mehr diplomierten Pflegfachleuten führen, sondern allen Pflegeberufen zu Gute kommen. Einer weitergehenden Autonomie der Pflegefachleute mit eigenen Anordnungskompetenzen - d.h. ohne ärztliche Anordnung- hat das Parlament im Rahmen des indirekten Gegenvorschlags bereits zugestimmt, allerdings mit klaren Leitplanken. Diese braucht es in Form eines Kosten - und Mengenmonitorings sowie Korrekturmassnahmen, die bei unerklärbaren Mengenausweitungen greifen würden. Letztlich kann die Zufriedenheit der Berufsleute nur sehr begrenzt auf gesetzlicher Ebene geregelt werden. Hier sind die Kantone gefordert, die für die Versorgungsplanung verantwortlich sind." 



Zuallererst, bevor ich mit dem eigentlichen Inhalt beschäftige, möchte ich eines klar stellen: Dieser Text ist von A – Z eine absolute Frechheit und zeigt vor allem eines: Die Ignoranz der Santésuisse gegenüber der Pflege! Ein solches Verhalten ist schon grundsätzlich inakzeptabel. Ich weiss nicht, ob Herr Ackermann es wirklich nicht weiss, oder die Pflegefachpersonen FA Intensivpflege absichtlich degradiert. Es heiss nicht Pfleger:in! Pflegerin ist der Titel einer (alten) 2 Jährigen Ausbildung (war vor allem in der Langzeitpflege tätig). Er spricht aber von Pflegefachpersonen mit einer insgesamt 5 (!) jährigen Ausbildung.

Der von ihm angesprochene Fachkräftemangel bestand schon vor der Pandemie. Die Pandemie war jetzt einfach noch der Durchlauferhitzer welcher die Situation zusätzlich aufgeheizt hat. Und das in ALLEN Bereichen. Darüber alleine könnte ich einen Blog – Beitrag verfassen. Doch das ist nicht das Thema. Das Thema ist, dass wieder jemand versucht die Leistungen der Pflegenden während der Pandemie klein zu reden. Und auch noch so tut, als ob jetzt, wo die Krise ja vorbei ist, alles in Ordnung sei. Nichts ist in Ordnung! Der Fachkräftemangel hat sich zusätzlich verschärft, weil während der Krise noch mehr Pflegende den Beruf verlassen haben. Ich weiss auch nicht, wie viele aufgrund eines Burnouts längere Zeit krank geschrieben sind, doch es sind einige. So viele, dass weiterhin Betten auf Intensivstationen sowie Bettenstationen geschlossen werden müssen.

 

Ich möchte mich nun zur folgenden Aussage äussern. Wenn ich diese lese, weiss ich echt nicht, ob ich lachen, weinen oder doch besser einfach schreiend um ein Feuer tanzen soll. (Ich habe mir mal sagen lassen, Hexen täten so etwas)



"Die grösste Herausforderung für die Pflege ist aber nicht die ausserordentliche aktuelle Krisensituation, sondern die demografische Entwicklung und der steigende Bedarf an zusätzlichem Personal in der Grundpflege. Ab 2030 wird mit einem Höhepunkt an Pflegebedürftigen gerechnet, darum werden wir in der Schweiz deutlich mehr Pflegepersonal benötigen. Zur Sicherstellung der Grundpflege sind insbesondere Fachangestellte Gesundheit und Pflegehelfer:innen SRK gefragt. Bei der Ausbildungsoffensive, die das Parlament beim Gegenvorschlag zur Pflegeinitiative ausgearbeitet hat, muss der Fokus auf die Ausbildung dieser Berufsgruppen gelegt werden. Die Ausbildungsoffensive soll nicht nur zu mehr diplomierten Pflegfachleuten führen, sondern allen Pflegeberufen zu Gute kommen."

Mit dieser Aussage zielt Hr. Ackermann auf die Langzeitpflege, jener Bereich welcher vom Fachkräftemangel auf Tertiärstufe bereits seit Jahren betroffen ist. Die Folge davon: Fachpersonen der Sekundarstufe 2, also Fachpersonen Gesundheit/Betreuung übernehmen gezwungenermassen Aufgaben der Pflegefachpersonen HF.

Betrachten wir zuerst einmal den Begriff «Grundpflege». Hier die Definition von Comparis: «Die Grundpflege beinhaltet Hilfe beim Duschen, Baden und Waschen, bei Kompressionsstrümpfen, beim An- und Auskleiden, beim Essen und Trinken, beim Toilettengang, beim Aufstehen, Hinlegen und Gehen oder bei der Zahnpflege.» Voilà! Da wären wir dann beim Sauber – Satt – Prinzip. Eine solche Aussage mit dem Titel: «Weiterentwicklung der Pflege» zu versehen, zeigt die Fachkenntnis dieses Menschen deutlich. Langzeitpflege ist schon seit Jahrhunderten viel mehr als das. Die betagten Menschen haben nämlich nicht nur einen Körper, sondern auch einen Geist und eine Seele, die ebenso gepflegt werden sollen. Langzeitpflege ist genauso eine Profession, wie die Akutpflege. Zur Langzeitpflege gehört die professionelle Beziehungspflege, die Angehörigenbetreuung, die Behandlungspflege, und auch die Palliative Betreuung bis zum Lebensende. Und ich habe noch lange nicht alles aufgezählt. Fachpersonen Gesundheit können viel, aber es fehlen ihnen 3 Jahre vertiefende Ausbildung genau in diesen Bereichen. Hinzu kommt, dass betagte Menschen hoch vulnerabel und multimorbid sind. Es kommt auch in der Langzeitpflege immer wieder zu lebensbedrohlichen Zuständen, auf welche reagiert werden muss. Denn auch wenn sich diese Menschen am Ende des Lebenskontinuums befinden, haben sie das Recht auf bestmögliche medizinische Versorgung, so weit sie dies wünschen. Viele Spitaleinweisungen und auch viel Leid könnten vermieden werden, wenn in der Langzeitfpflege ausreichend Fachpersonal vorhanden wäre, das rechtzeitig oder noch besser präventiv handeln kann.

Es verärgert und entsetzt mich zutiefst, dass wir im Jahr 2022 noch darüber diskutieren müssen, ob es Pflegefachpersonen HF in der Langzeitpflege braucht. Keiner würde ein Haus bauen wollen, ohne einen Architekten im Team zu haben. Keiner würde sagen: Der Bauführer reicht doch aus. Warum wird es dann in der Pflege gemacht?

Ganz zum Schluss möchte ich eines deutlich machen: Wirklich professionelle Pflege egal in welchem Bereich ist nur möglich, wenn jede Berufsgruppe das machen kann, wozu sie ausgebildet wurde. Das ist dieser sagenumwobene Skill – und Grademix. Und genau das, ist in der Langzeitpflege nicht mehr der Fall. Fachpersonen Gesundheit müssen zu viele Aufgaben übernehmen, welche eine Pflegefachperson HF machen sollte. Sie tun es, weil niemand anders da ist, der es könnte. Sie werden dazu unterbezahlt, verheizt und ausgebrannt. Ist es das, was Herr Ackermann weiterhin als Buisness as usual zementieren möchte?

Das Potential der Fachangestellten Pflege liegt in der Langzeitpflege genau wegen dieser Verlagerung der Aufgaben brach. Dadurch wird den Bewohner:innen eine optimale Pflege und Betreuung vorenthalten. Und das auch noch bewusst.

Die Zufriedenheit der Pflegefachpersonen würde sich signifikant verbessern, könnte sie ihre Arbeit endlich so machen, wie sie es gelernt haben. Noch mehr würde sie sich steigern,  wenn ihr bezüglich Autonomie nicht ständig Geldgier und Inkompetenz unterstellt würde. Da könnte Herr Ackermann durchaus seinen Beitrag leisten. 

Die Überschrift des Kommentars lautet: «Die Pflege mit Augenmass weiterentwickeln.»

Ich sage: Vielleicht sollten Sie zuerst die Augen aufmachen!

 

Patricia Tschannen, Pflegehexe und  Pflegefachfrau HF, im März 2022




Mittwoch, 12. Januar 2022

Alles und noch mehr

 


Die Nachricht, dass der Kanton Graubünden ehemalige Pflegende dazu verpflichtet, sich registrieren zu lassen und sie notfalls auch für Einsätze zu verpflichten, macht mich betroffen. Offensichtlich rechnet der Kanton damit, in einen ernsthaften Notstand zu geraten. Nüchtern betrachtet, ist es eine zivile Mobilmachung.

Für das Gesundheitspersonal bedeutet das Krisenmodus. Weiterhin. Meine erste Reaktion darauf (für alle auf Twitter nachzulesen) war Wut. Und unter der Wut ist Einsamkeit. Die Einsamkeit des Gesundheitspersonals, die ich schon lange spüre. Sie wird sichtbar in den Tweets von Ärzten und Pflegenden, die versuchen zu beschreiben, in welcher katastrophalen Lage wir uns gerade befinden. Sie bekommen so wenig Gehör. Im Gegenteil, einige werden verbal attackiert und bedroht. Weil alle genug haben von der Krise, weil sie endlich Normalität wollen. Und auch ich wünsche mir nichts mehr als ein Ende dieses Alptraums. Doch weg schauen ist für mich keine Option. Und schweigen noch weniger.

Ich habe mir geschworen, ich gehe nicht schweigend durch diese Pandemie. Und weil ich jetzt gerade die Kraft dazu habe, bin versuche ich heute Stimme zu sein, für die, die gerade durch die 5. Welle gehen, Leben retten, Sterbende begleiten, Leid lindern und weiter aufrecht stehen. Dieser Text ist ein Tribut an euch alle, die ihr im Gesundheitswesen tätig seid, ein Aufruf an die Politik endlich richtig hinzusehen und das Gesundheitspersonal nicht weiter im Stich zu lassen. Und eine Hommage an das Lied, welches mich immer wieder aufstehen lässt. Einige Zeilen dieses Songs nutze ich hier, um meine Gedanken zu teilen. Ich gebe meinen Traum nicht auf, dieses Lied einmal an einem Festival laut mit euch allen zu singen. Zur besseren Verständlichkeit habe ich den Text von Bündnerdialekt auf Deutsch übersetzt.

 

«Leute wie wir, haben keinen Feierabend, wir sind hier, wenn’s einschlägt»

Wenn die Arbeitszeit vorbei ist, einfach alles fallen lassen und gehen? Im Gesundheitsberuf nicht drin. Und auch wenn wir früher oder später nach Hause gehen, nehmen wir in unserem Herzen, unserem Kopf so vieles mit.

Diese Pandemie bringt unser Gesundheitswesen an den Anschlag. Die Frage, ob wir da mitmachen oder nicht, stellt sich nicht. Wir sind in einer Pandemie, wir sind zuständig. Seit Beginn der Pandemie bin ich mir dessen bewusst, und habe dazu auch «ja» gesagt. Doch wie ist das für die Menschen, die sich einmal dafür entschieden haben, diesen Beruf zu verlassen? Aus welchen Gründen auch immer. Sie werden jetzt gezwungen, da zu stehen, wenn es einschlägt. Was macht das mit diesen Menschen? Können wir das verlangen?

 

«Kaffee im Pappbecher holen, Krone richten und noch mal von vorn»

Für einige von uns gab es zwischen den Wellen Verschnaufpausen. Wir konnten sogar mehr als nur einen Kaffee trinken, es gab wieder geregelte Mahlzeiten, genügend Schlaf. Wir konnten beginnen das Erlebte zu verarbeiten. Doch dann kam schon die nächste Welle und alles begann von vorne.

 

«Auch wenn es diesmal wirklich fordert, wir sind hier, wenn nichts mehr geht.»

Mit jeder Welle sind wir erschöpfter, haben wir weniger Reserve. Und dennoch ist aufgeben in der Situation keine Option. Das lassen unsere Ethik und Moral nicht zu. Ich weiss, es gibt Stimmen, die sind für Streiks, ich verstehe sie. Und gleichzeitig kann ich es nicht, weil ich die Menschen, die mich brauchen nicht im Stich lassen kann.

 

«Uns interessiert nicht, was für Theorien ihr euch bastelt, weil in der Praxis muss die Arbeit gemacht werden.»

«Alles nur Panik mache, es hat ja noch so und so viel Platz auf Intensiv. Es trifft doch nur die Alten (über 50 Jährigen), die Übergewichtigen, die Vorerkrankten.» Das sind Theorien, die vielleicht sogar stimmen.

Aber wenn ich Patient:innen nicht mehr in Sicherheit bringen kann, weil die Intensivstation um 3.00 morgens nämlich einfach voll ist, dann interessiert mich die Statistik von gestern einfach nicht. Und wenn jemand um sein Leben ringt, Angehörige vor Sorge nicht mehr schlafen, dann interessiert mich weder sein Alter noch was für Risiken er hat. Dann ist da ein Mensch, mit Liebsten, die ihn nicht verlieren wollen. Ein Mensch, der ein Recht auf seine Würde hat. In der Praxis sind solche Aussagen zynisch. In der Praxis sind solche Aussagen, ein Verschliessen vor der Realität.

 

«Und es ist nie genug, es wird immer mehr»

Die Forderungen an das Gesundheitspersonal werden tatsächlich immer mehr. Schon einmal wurde das Arbeitsrecht ausgehebelt. Passiert das nochmal? Nochmal 12 Stunden Schichten? Auch ohne diese und auch ohne Pandemie fordert der Alltag uns alles ab. Noch vor zwei Jahren gab es dieses Krankheitsbild nicht. Und gerade auf der Intensiv binden diese Patient:innen sehr viele personelle Ressourcen. Der Aufgabenberg, die Ansprüche an die Pflegenden wächst, ein Fass ohne Boden.

Pflegende die aus dem Beruf ausgestiegen sind, haben doch ihren Teil gegeben und geleistet, und jetzt ist das doch nicht genug?

 

«Es hört nicht mehr auf, kein Ende mehr in Sicht»

Ein Marathon ohne zu wissen wo und wann das Ziel erreicht ist, das ist diese Pandemie für mich. Ich hatte gehofft, dass wir es bald erreichen. Dass wir einigermassen «heil» durch diesen Winter kommen. Doch nun, schwappt die nächste Welle über uns.

«Wir geben alles und noch mehr für euch da draussen»

Ja, es gibt ein «draussen». Auch wenn diese Pandemie alle auf irgendeine Art und Weise trifft, sind die Gesundheitsberufe ganz besonders betroffen. Für uns hat es keinen Lockdown gegeben. Für uns hat es Personalengpässe, die keine Engpässe, sondern Löcher sind, gegeben. Wir haben uns exponiert, teilweise infiziert. Und wir haben viel Leid erlebt und gesehen. Auch ich bin manchmal «draussen». Was auf Intensiv abgeht, weiss ich nur von Erzählungen. Ich kann nur ahnen, was es bedeutet, diese Schicksale live und in Farbe mitzuerleben. Das einzige was ich kann, ist Zeugin sein. Anerkennen, was mir erzählt wird.  

 

«Es ist der Kampf gegen die Zeit und verlangt die ganze Energie bis auf den Reservetank. Weil man keine Wunder vollbringen kann, frisst es einem manchmal von innen auf.»

Schon in den ersten Wellen habe ich gewarnt: Wir verlieren. Wir verlieren Pflegende/Ärzt:innen, nicht nur weil sie körperlich nicht mehr können, sondern weil ihre Seelen schaden nehmen. Dafür habe ich Spott geerntet. Dennoch ist genau das jetzt die Realität. In jeder Welle haben wir Verluste gemacht. Wann wird sich daran etwas ändern?

 

«Wenn wir ‘s nicht machen, macht keiner, wir sind Menschen, aber müssen unmenschliches leisten.»

Mitarbeiter:innen welche einen Einsatz in einem Krisengebiet leisten werden nach einer gewissen Zeit wieder nach Hause geholt, um Schaden vor ihnen abzuwenden. Mitarbeitende im Gesundheitswesen können nicht «nach Hause geholt» werden. Denn wenn sie gehen, ist niemand mehr da. Und genau darum ist für viele von uns aufgeben keine Option. Nicht jetzt.

 

«Jeder Mensch, verdient die Chance zum Heilen»

Über die Möglichkeit der Triage wurde schon viel geschrieben. Aus meiner Sicht die Bankrotterklärung unserer Werte. Wollen wir wirklich, dass jemand entscheidet, wer eine Chance «verdient» und wer nicht? Und wollen wir diese Entscheidung tatsächlich unserem Gesundheitspersonal zumuten?

 

«Man hat uns Demut beigebracht, um zu merken, wer für uns einsteht.»

Zugegeben, der Begriff Demut liegt mir ein bisschen quer im Magen. Zusammen mit unserem Verantwortungsbewusstsein ist sie der Faktor auf den sich die Politik bisher verlassen hat. Sie ist der Grund, weshalb Pflegende nicht streiken, sondern weiter machen. Doch unser Idealismus ist es auch, der uns befähigt hinzusehen, wer denn jetzt wirklich für uns einsteht. 

Genau heute wurden erste Massnahmen zur Umsetzung der Pflegeinitiative vom Bundesrat beschlossen. Es gibt Stimmen die sagen, dass die Pflegeinitiative vom Volk nur wegen der Pandemie angenommen wurde. Und wenn es so ist: Scheisse, das haben wir auch verdient!

Am 28. November 2021 ist die schweizer Stimmbevölkerung für uns eingestanden, dafür bin ich dankbar.

Für uns selbst einstehen, dass dürfen wir Pflegenden weiterhin lernen, auch ich. Nicht nur politisch, sondern auch in der Gesellschaft.

 

Patricia Tschannen, Pflegehexe