Mittwoch, 12. Januar 2022

Alles und noch mehr

 


Die Nachricht, dass der Kanton Graubünden ehemalige Pflegende dazu verpflichtet, sich registrieren zu lassen und sie notfalls auch für Einsätze zu verpflichten, macht mich betroffen. Offensichtlich rechnet der Kanton damit, in einen ernsthaften Notstand zu geraten. Nüchtern betrachtet, ist es eine zivile Mobilmachung.

Für das Gesundheitspersonal bedeutet das Krisenmodus. Weiterhin. Meine erste Reaktion darauf (für alle auf Twitter nachzulesen) war Wut. Und unter der Wut ist Einsamkeit. Die Einsamkeit des Gesundheitspersonals, die ich schon lange spüre. Sie wird sichtbar in den Tweets von Ärzten und Pflegenden, die versuchen zu beschreiben, in welcher katastrophalen Lage wir uns gerade befinden. Sie bekommen so wenig Gehör. Im Gegenteil, einige werden verbal attackiert und bedroht. Weil alle genug haben von der Krise, weil sie endlich Normalität wollen. Und auch ich wünsche mir nichts mehr als ein Ende dieses Alptraums. Doch weg schauen ist für mich keine Option. Und schweigen noch weniger.

Ich habe mir geschworen, ich gehe nicht schweigend durch diese Pandemie. Und weil ich jetzt gerade die Kraft dazu habe, bin versuche ich heute Stimme zu sein, für die, die gerade durch die 5. Welle gehen, Leben retten, Sterbende begleiten, Leid lindern und weiter aufrecht stehen. Dieser Text ist ein Tribut an euch alle, die ihr im Gesundheitswesen tätig seid, ein Aufruf an die Politik endlich richtig hinzusehen und das Gesundheitspersonal nicht weiter im Stich zu lassen. Und eine Hommage an das Lied, welches mich immer wieder aufstehen lässt. Einige Zeilen dieses Songs nutze ich hier, um meine Gedanken zu teilen. Ich gebe meinen Traum nicht auf, dieses Lied einmal an einem Festival laut mit euch allen zu singen. Zur besseren Verständlichkeit habe ich den Text von Bündnerdialekt auf Deutsch übersetzt.

 

«Leute wie wir, haben keinen Feierabend, wir sind hier, wenn’s einschlägt»

Wenn die Arbeitszeit vorbei ist, einfach alles fallen lassen und gehen? Im Gesundheitsberuf nicht drin. Und auch wenn wir früher oder später nach Hause gehen, nehmen wir in unserem Herzen, unserem Kopf so vieles mit.

Diese Pandemie bringt unser Gesundheitswesen an den Anschlag. Die Frage, ob wir da mitmachen oder nicht, stellt sich nicht. Wir sind in einer Pandemie, wir sind zuständig. Seit Beginn der Pandemie bin ich mir dessen bewusst, und habe dazu auch «ja» gesagt. Doch wie ist das für die Menschen, die sich einmal dafür entschieden haben, diesen Beruf zu verlassen? Aus welchen Gründen auch immer. Sie werden jetzt gezwungen, da zu stehen, wenn es einschlägt. Was macht das mit diesen Menschen? Können wir das verlangen?

 

«Kaffee im Pappbecher holen, Krone richten und noch mal von vorn»

Für einige von uns gab es zwischen den Wellen Verschnaufpausen. Wir konnten sogar mehr als nur einen Kaffee trinken, es gab wieder geregelte Mahlzeiten, genügend Schlaf. Wir konnten beginnen das Erlebte zu verarbeiten. Doch dann kam schon die nächste Welle und alles begann von vorne.

 

«Auch wenn es diesmal wirklich fordert, wir sind hier, wenn nichts mehr geht.»

Mit jeder Welle sind wir erschöpfter, haben wir weniger Reserve. Und dennoch ist aufgeben in der Situation keine Option. Das lassen unsere Ethik und Moral nicht zu. Ich weiss, es gibt Stimmen, die sind für Streiks, ich verstehe sie. Und gleichzeitig kann ich es nicht, weil ich die Menschen, die mich brauchen nicht im Stich lassen kann.

 

«Uns interessiert nicht, was für Theorien ihr euch bastelt, weil in der Praxis muss die Arbeit gemacht werden.»

«Alles nur Panik mache, es hat ja noch so und so viel Platz auf Intensiv. Es trifft doch nur die Alten (über 50 Jährigen), die Übergewichtigen, die Vorerkrankten.» Das sind Theorien, die vielleicht sogar stimmen.

Aber wenn ich Patient:innen nicht mehr in Sicherheit bringen kann, weil die Intensivstation um 3.00 morgens nämlich einfach voll ist, dann interessiert mich die Statistik von gestern einfach nicht. Und wenn jemand um sein Leben ringt, Angehörige vor Sorge nicht mehr schlafen, dann interessiert mich weder sein Alter noch was für Risiken er hat. Dann ist da ein Mensch, mit Liebsten, die ihn nicht verlieren wollen. Ein Mensch, der ein Recht auf seine Würde hat. In der Praxis sind solche Aussagen zynisch. In der Praxis sind solche Aussagen, ein Verschliessen vor der Realität.

 

«Und es ist nie genug, es wird immer mehr»

Die Forderungen an das Gesundheitspersonal werden tatsächlich immer mehr. Schon einmal wurde das Arbeitsrecht ausgehebelt. Passiert das nochmal? Nochmal 12 Stunden Schichten? Auch ohne diese und auch ohne Pandemie fordert der Alltag uns alles ab. Noch vor zwei Jahren gab es dieses Krankheitsbild nicht. Und gerade auf der Intensiv binden diese Patient:innen sehr viele personelle Ressourcen. Der Aufgabenberg, die Ansprüche an die Pflegenden wächst, ein Fass ohne Boden.

Pflegende die aus dem Beruf ausgestiegen sind, haben doch ihren Teil gegeben und geleistet, und jetzt ist das doch nicht genug?

 

«Es hört nicht mehr auf, kein Ende mehr in Sicht»

Ein Marathon ohne zu wissen wo und wann das Ziel erreicht ist, das ist diese Pandemie für mich. Ich hatte gehofft, dass wir es bald erreichen. Dass wir einigermassen «heil» durch diesen Winter kommen. Doch nun, schwappt die nächste Welle über uns.

«Wir geben alles und noch mehr für euch da draussen»

Ja, es gibt ein «draussen». Auch wenn diese Pandemie alle auf irgendeine Art und Weise trifft, sind die Gesundheitsberufe ganz besonders betroffen. Für uns hat es keinen Lockdown gegeben. Für uns hat es Personalengpässe, die keine Engpässe, sondern Löcher sind, gegeben. Wir haben uns exponiert, teilweise infiziert. Und wir haben viel Leid erlebt und gesehen. Auch ich bin manchmal «draussen». Was auf Intensiv abgeht, weiss ich nur von Erzählungen. Ich kann nur ahnen, was es bedeutet, diese Schicksale live und in Farbe mitzuerleben. Das einzige was ich kann, ist Zeugin sein. Anerkennen, was mir erzählt wird.  

 

«Es ist der Kampf gegen die Zeit und verlangt die ganze Energie bis auf den Reservetank. Weil man keine Wunder vollbringen kann, frisst es einem manchmal von innen auf.»

Schon in den ersten Wellen habe ich gewarnt: Wir verlieren. Wir verlieren Pflegende/Ärzt:innen, nicht nur weil sie körperlich nicht mehr können, sondern weil ihre Seelen schaden nehmen. Dafür habe ich Spott geerntet. Dennoch ist genau das jetzt die Realität. In jeder Welle haben wir Verluste gemacht. Wann wird sich daran etwas ändern?

 

«Wenn wir ‘s nicht machen, macht keiner, wir sind Menschen, aber müssen unmenschliches leisten.»

Mitarbeiter:innen welche einen Einsatz in einem Krisengebiet leisten werden nach einer gewissen Zeit wieder nach Hause geholt, um Schaden vor ihnen abzuwenden. Mitarbeitende im Gesundheitswesen können nicht «nach Hause geholt» werden. Denn wenn sie gehen, ist niemand mehr da. Und genau darum ist für viele von uns aufgeben keine Option. Nicht jetzt.

 

«Jeder Mensch, verdient die Chance zum Heilen»

Über die Möglichkeit der Triage wurde schon viel geschrieben. Aus meiner Sicht die Bankrotterklärung unserer Werte. Wollen wir wirklich, dass jemand entscheidet, wer eine Chance «verdient» und wer nicht? Und wollen wir diese Entscheidung tatsächlich unserem Gesundheitspersonal zumuten?

 

«Man hat uns Demut beigebracht, um zu merken, wer für uns einsteht.»

Zugegeben, der Begriff Demut liegt mir ein bisschen quer im Magen. Zusammen mit unserem Verantwortungsbewusstsein ist sie der Faktor auf den sich die Politik bisher verlassen hat. Sie ist der Grund, weshalb Pflegende nicht streiken, sondern weiter machen. Doch unser Idealismus ist es auch, der uns befähigt hinzusehen, wer denn jetzt wirklich für uns einsteht. 

Genau heute wurden erste Massnahmen zur Umsetzung der Pflegeinitiative vom Bundesrat beschlossen. Es gibt Stimmen die sagen, dass die Pflegeinitiative vom Volk nur wegen der Pandemie angenommen wurde. Und wenn es so ist: Scheisse, das haben wir auch verdient!

Am 28. November 2021 ist die schweizer Stimmbevölkerung für uns eingestanden, dafür bin ich dankbar.

Für uns selbst einstehen, dass dürfen wir Pflegenden weiterhin lernen, auch ich. Nicht nur politisch, sondern auch in der Gesellschaft.

 

Patricia Tschannen, Pflegehexe


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