Sonntag, 17. Mai 2015

Schicksalsstunden


Der Blutturm an der Aare war Teil der Stadtbefestigung von Bern. Später wurde er auch Hexenturm genannt. Heute weiss niemand mehr, weshalb der Turm um 1756 erstmals so bezeichnet wurde.
Vielleicht weil damals einige Menschen spürten, dass hinter den Schleiern in jenem Turm eines der mächtigsten magischen Wesen lebte…
Hier haben die Geschehnisse meines Romans Dracheneule ihren Ursprung.
Gehen wir gemeinsam zurück, in jene Zeit und jene schicksalshaften Stunden.

Ihre Trauer, ihr Schmerz erfüllen den Turm, ihr Zuhause, bevor sie selbst in ihm erscheint. Hochgewachsen und schmal steht sie da. Einen Moment schliesst sie ihre Augen, ihr Körper regungslos, in der Hoffnung, der schrecklichen Realität entfliehen zu können. Aber es geling nicht. Ihr blutendes Herz lässt es nicht zu. Vor wenigen Stunden hat sie mit ansehen müssen, wie ihre geliebte Nichte Emillia einem Teil ihrer Selbst beraubt wurde. Claire löst den schwarzen Umhang und lässt ihn zu Boden gleiten. Drunter trägt sie noch immer die violette Robe, die auf ihr magisches Wesen hinweist. Und genau dieses Wesen hat sich neben den Drachen auch in Emilia manifestiert. So wie Claire es vorausgesehen hat. Doch anstatt die Nachfolgerin in ihre Obhut zu geben, hat der Clanführer etwas Unfassbares getan. Noch bevor Claire überhaupt hat begreifen können, was geschieht, hat Dragomir die Eule in Emilia getötet. Grauen überkommt Claire, während sie sich wieder daran erinnert, wie Emilia dabei zu Boden gesunken ist. Hilflos hat Claire sie in den Armen gehalten, mitangesehen und gespürt, wie die Eule in ihrer Nichte verblutete und dann aus ihr entschwand. Zurück geblieben ist eine völlig entkräftete Emilia, die nie heil werden wird. Eine silberne Träne rinnt über Claires Wange. Emilia, blutjung, voller Vertrauen ins Leben, ihrer Zukunft beraubt. Ebenso wie Emilia wurde auch sie, Claire verraten.
Niemals hätte sie geglaubt, dass so etwas geschehen könnte. Ärger flackert in ihr auf, die die Kerzen, die sie jetzt all mit einer Handbewegung entzündet. Dragomir Blackwood, erst seit kurzem Clanführer hat sie und den Clan um ihre Nachfolgerin betrogen. Fassungslos hat sie Dragomir nach seinen Motiven für diese frevlerische Tat gefragt. „Der Clan wird sich nicht mehr länger um die Welt vor den Schleiern kümmern. Die Menschen haben unsere Fürsorge nicht verdient. Also brauchen wir auch keine Eule mehr!“ ist seine kalte Antwort gewesen. Dieser blasierte Schnösel glaubt wirklich, er könne das Schicksal der Clans bestimmen. Das Universum wird sich, was es geschenkt hat, zurücknehmen, sollten die Clans ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen. Die Magie in Bernadun wird schwinden und die Schleier fallen. Der Fall der Schleier ist gleichbedeutend mit dem Untergang von Bernadun. Doch zuvor werden beide Clans in ihrer Überheblichkeit furchtbare Frevel an den Seelen vor den Schleiern begehen.
Sie hat die Gräuel gesehen und ihr Wissen auch Dragomir offenbart. Doch dieser hat sie nur gönnerhaft angelächelt. „Du wirst langsam alt, meine Liebe. Dein Blick in die Zukunft ist trüb geworden. Lucius, unser Zeremonienmeister hat gesehen, wie die Clans zu ungeahnter Grösse aufsteigen, wenn sie ihre Macht endlich für sich selbst nutzen. Man möge mir verzeihen, dass ich einem Zeremonienmeister im Vollbesitz seiner Macht in dieser Frage mehr Glauben schenke!“
Tief verletzt von seinen Worten hat Claire daraufhin die Drachenvilla verlassen.
Nun steht sie da, in ihrem Turm und die Erinnerung an seine Worte lassen ihren Zorn auflodern. Ausgerechnet Lucius D’Amatio soll mehr über die Zukunft wissen als sie! Dieser Dilletant, der einzig auf seinen Vorteil bedacht ist. Schamlos nutzt er Dragomirs Unerfahrenheit und Geltungsdrang für seine Zwecke aus.
Sie werden Bernadun in den Abgrund reissen und sie, Claire Selcois, wird dies nicht verhindern können. Aber, dass sie die Clans auch noch in den Schmutz ziehen, wird sie niemals zulassen. Die Schleier werden fallen, früher oder später. Wenn sie diese jetzt niederreisst, werden die Clans wenigstens in Ehre untergehen. Claire streckt ihre Arme in die Luft, hebt ihr Gesicht dem Himmel entgegen. Sie sammelt ihre Kraft von unten, der Erde, mit der sie verbunden ist, und von oben der Weite des Universums, wo es sie hinzieht.
„Nein!“ Es ist die Stimme des Ihren, die sie hört. Es sind seine Arme, die ihre Bewegung aufhalten und so den Kontakt zur Macht unterbrechen, ohne dass er körperlich bei ihr ist. Ihre seelische Bindung reicht aus. „Gabriel, ich kann nicht anders! Sie werden Schande über die Clans bringen! Hat du nicht gesehen, was sie ihnen antun werden?“ Verzweiflung überkommt sie und Schluchzen schüttelt ihren Körper. Er manifestiert sich direkt hinter ihr, hält sie sicher in seinen Armen. „Ich habe es auch gesehen, Liebste. Aber es gibt nicht nur diesen Weg. Hab den Mut und sieh‘ weiter, viel weiter!“ Claire lehnt sich an seinen starken Körper, schliesst die Augen und lässt den Wind der Zeit ihren Geist wegtragen zur Wegkreuzung auf der die Clans heute stehen. Sie wendet sich ab von dem Massaker, das den menschlichen Seelen durch die Clans bevorsteht. Zuerst ist da nur Nebel, doch dann öffnet sich tatsächlich ein anderer Weg. Claire kann kaum etwas von ihm sehen, aber sie geht einfach weiter. Nach einer langen Strecke in Nebel und Dunkelheit erscheint ihr das Bild einer Frau. Einer Frau mit rotblondem lockigem Haar, vor ihr liegt ein schwarzer Wolf, hinter ihr umspannt ein Drache sie schützend mit seinen Flügeln. Auf ihrer Schulter hockt eine Eule. In der Hand hält sie das Lebenslicht der Clans. Es leuchtet nur noch sehr schwach, aber es leuchtet.
Claire fällt zurück in die Gegenwart. „Sie wird wieder kommen. Die Eule wird zurück kehren.“ flüstert Claire. Hoffnung keimt in ihr auf. Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Sie kann die Clans nicht retten, die Eule, die sie soeben in der Zukunft gesehen hat, aber schon. „Sie braucht Zeit. Wie kann ich ihr diese verschaffen?“ überlegt sie. Claire weiss, sie hat nicht nur Jahre oder Jahrzehnte in die Zukunft geblickt: Das waren Jahrhunderte. Wie kann sie verhindern, dass die Clans so viel Schuld auf sich laden, dass die Schleier bereits vor der Geburt dieser Eule fallen? „Sie müssen beschäftigt werden, innerhalb der Schleier.“ erklärt Gabriel. Sie müssen abgelenkt werden. Schlagartig ist Claire klar, was sie tun muss. Auch Gabriel weiss es, bevor sie es überhaupt ausspricht. „Ich werde es nicht mit ansehen können.“ sagt sie leise. „Tu es! Noch heute Nacht. Danach werden wir Bernadun verlassen, zusammen mit Emilia. Die Kleine hat schon genug gelitten." Zart streicht Gabriel über ihr schmales Gesicht und verlässt sie.
Was sie tun muss, muss sie alleine tun. Claire streift sich ein dunkles Baumwollkleid über, packt die benötigten Dinge in einen Korb und so wie sie gekommen ist, verlässt sie ihren Turm: Voller Schmerz und Trauer, aber auch zu entschlossen, ihre Aufgabe zu erfüllen.
In jener Vollmondnacht spricht Claire Selcois, die letzte Eule der Clans, den letzten Zauber auf dem gemeinsamen Ritualfeld.

Am nächsten Morgen verliert Dragomir seine magische Kraft und nur wenige Tage später erlischt sein Lebenslicht. 

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