Der
Blutturm an der Aare war Teil der Stadtbefestigung von Bern. Später wurde er
auch Hexenturm genannt. Heute weiss niemand mehr, weshalb der Turm um 1756
erstmals so bezeichnet wurde.
Vielleicht
weil damals einige Menschen spürten, dass hinter den Schleiern in jenem Turm
eines der mächtigsten magischen Wesen lebte…
Hier haben
die Geschehnisse meines Romans Dracheneule ihren Ursprung.
Gehen wir
gemeinsam zurück, in jene Zeit und jene schicksalshaften Stunden.
Ihre
Trauer, ihr Schmerz erfüllen den Turm, ihr Zuhause, bevor sie selbst in ihm
erscheint. Hochgewachsen und schmal steht sie da. Einen Moment schliesst sie
ihre Augen, ihr Körper regungslos, in der Hoffnung, der schrecklichen Realität
entfliehen zu können. Aber es geling nicht. Ihr blutendes Herz lässt es nicht
zu. Vor wenigen Stunden hat sie mit ansehen müssen, wie ihre geliebte Nichte
Emillia einem Teil ihrer Selbst beraubt wurde. Claire löst den schwarzen Umhang
und lässt ihn zu Boden gleiten. Drunter trägt sie noch immer die violette Robe,
die auf ihr magisches Wesen hinweist. Und genau dieses Wesen hat sich neben den
Drachen auch in Emilia manifestiert. So wie Claire es vorausgesehen hat. Doch
anstatt die Nachfolgerin in ihre Obhut zu geben, hat der Clanführer etwas
Unfassbares getan. Noch bevor Claire überhaupt hat begreifen können, was
geschieht, hat Dragomir die Eule in Emilia getötet. Grauen überkommt Claire,
während sie sich wieder daran erinnert, wie Emilia dabei zu Boden gesunken ist.
Hilflos hat Claire sie in den Armen gehalten, mitangesehen und gespürt, wie die
Eule in ihrer Nichte verblutete und dann aus ihr entschwand. Zurück geblieben
ist eine völlig entkräftete Emilia, die nie heil werden wird. Eine silberne
Träne rinnt über Claires Wange. Emilia, blutjung, voller Vertrauen ins Leben,
ihrer Zukunft beraubt. Ebenso wie Emilia wurde auch sie, Claire verraten.
Niemals
hätte sie geglaubt, dass so etwas geschehen könnte. Ärger flackert in ihr auf,
die die Kerzen, die sie jetzt all mit einer Handbewegung entzündet. Dragomir
Blackwood, erst seit kurzem Clanführer hat sie und den Clan um ihre
Nachfolgerin betrogen. Fassungslos hat sie Dragomir nach seinen Motiven für
diese frevlerische Tat gefragt. „Der Clan wird sich nicht mehr länger um die
Welt vor den Schleiern kümmern. Die Menschen haben unsere Fürsorge nicht
verdient. Also brauchen wir auch keine Eule mehr!“ ist seine kalte Antwort
gewesen. Dieser blasierte Schnösel glaubt wirklich, er könne das Schicksal der
Clans bestimmen. Das Universum wird sich, was es geschenkt hat, zurücknehmen,
sollten die Clans ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen. Die Magie in Bernadun wird
schwinden und die Schleier fallen. Der Fall der Schleier ist gleichbedeutend
mit dem Untergang von Bernadun. Doch zuvor werden beide Clans in ihrer
Überheblichkeit furchtbare Frevel an den Seelen vor den Schleiern begehen.
Sie
hat die Gräuel gesehen und ihr Wissen auch Dragomir offenbart. Doch dieser hat
sie nur gönnerhaft angelächelt. „Du wirst langsam alt, meine Liebe. Dein Blick
in die Zukunft ist trüb geworden. Lucius, unser Zeremonienmeister hat gesehen,
wie die Clans zu ungeahnter Grösse aufsteigen, wenn sie ihre Macht endlich für
sich selbst nutzen. Man möge mir verzeihen, dass ich einem Zeremonienmeister im
Vollbesitz seiner Macht in dieser Frage mehr Glauben schenke!“
Tief
verletzt von seinen Worten hat Claire daraufhin die Drachenvilla verlassen.
Nun
steht sie da, in ihrem Turm und die Erinnerung an seine Worte lassen ihren Zorn
auflodern. Ausgerechnet Lucius D’Amatio soll mehr über die Zukunft wissen als
sie! Dieser Dilletant, der einzig auf seinen Vorteil bedacht ist. Schamlos
nutzt er Dragomirs Unerfahrenheit und Geltungsdrang für seine Zwecke aus.
Sie
werden Bernadun in den Abgrund reissen und sie, Claire Selcois, wird dies nicht
verhindern können. Aber, dass sie die Clans auch noch in den Schmutz ziehen, wird
sie niemals zulassen. Die Schleier werden fallen, früher oder später. Wenn sie
diese jetzt niederreisst, werden die Clans wenigstens in Ehre untergehen.
Claire streckt ihre Arme in die Luft, hebt ihr Gesicht dem Himmel entgegen. Sie
sammelt ihre Kraft von unten, der Erde, mit der sie verbunden ist, und von oben
der Weite des Universums, wo es sie hinzieht.
„Nein!“
Es ist die Stimme des Ihren, die sie hört. Es sind seine Arme, die ihre
Bewegung aufhalten und so den Kontakt zur Macht unterbrechen, ohne dass er
körperlich bei ihr ist. Ihre seelische Bindung reicht aus. „Gabriel, ich kann
nicht anders! Sie werden Schande über die Clans bringen! Hat du nicht gesehen,
was sie ihnen antun werden?“ Verzweiflung überkommt sie und Schluchzen
schüttelt ihren Körper. Er manifestiert sich direkt hinter ihr, hält sie sicher
in seinen Armen. „Ich habe es auch gesehen, Liebste. Aber es gibt nicht nur
diesen Weg. Hab den Mut und sieh‘ weiter, viel weiter!“ Claire lehnt sich an
seinen starken Körper, schliesst die Augen und lässt den Wind der Zeit ihren
Geist wegtragen zur Wegkreuzung auf der die Clans heute stehen. Sie wendet sich
ab von dem Massaker, das den menschlichen Seelen durch die Clans bevorsteht.
Zuerst ist da nur Nebel, doch dann öffnet sich tatsächlich ein anderer Weg.
Claire kann kaum etwas von ihm sehen, aber sie geht einfach weiter. Nach einer
langen Strecke in Nebel und Dunkelheit erscheint ihr das Bild einer Frau. Einer
Frau mit rotblondem lockigem Haar, vor ihr liegt ein schwarzer Wolf, hinter ihr
umspannt ein Drache sie schützend mit seinen Flügeln. Auf ihrer Schulter hockt
eine Eule. In der Hand hält sie das Lebenslicht der Clans. Es leuchtet nur noch
sehr schwach, aber es leuchtet.
Claire
fällt zurück in die Gegenwart. „Sie wird wieder kommen. Die Eule wird zurück kehren.“
flüstert Claire. Hoffnung keimt in ihr auf. Vielleicht ist es noch nicht zu
spät. Sie kann die Clans nicht retten, die Eule, die sie soeben in der Zukunft
gesehen hat, aber schon. „Sie braucht Zeit. Wie kann ich ihr diese
verschaffen?“ überlegt sie. Claire weiss, sie hat nicht nur Jahre oder Jahrzehnte
in die Zukunft geblickt: Das waren Jahrhunderte. Wie kann sie verhindern, dass
die Clans so viel Schuld auf sich laden, dass die Schleier bereits vor der
Geburt dieser Eule fallen? „Sie müssen beschäftigt werden, innerhalb der
Schleier.“ erklärt Gabriel. Sie müssen abgelenkt werden. Schlagartig ist Claire
klar, was sie tun muss. Auch Gabriel weiss es, bevor sie es überhaupt
ausspricht. „Ich werde es nicht mit ansehen können.“ sagt sie leise. „Tu es!
Noch heute Nacht. Danach werden wir Bernadun verlassen, zusammen mit Emilia.
Die Kleine hat schon genug gelitten." Zart streicht Gabriel über ihr
schmales Gesicht und verlässt sie.
Was
sie tun muss, muss sie alleine tun. Claire streift sich ein dunkles
Baumwollkleid über, packt die benötigten Dinge in einen Korb und so wie sie
gekommen ist, verlässt sie ihren Turm: Voller Schmerz und Trauer, aber auch zu
entschlossen, ihre Aufgabe zu erfüllen.
In
jener Vollmondnacht spricht Claire Selcois, die letzte Eule der Clans, den
letzten Zauber auf dem gemeinsamen Ritualfeld.
Am
nächsten Morgen verliert Dragomir seine magische Kraft und nur wenige Tage
später erlischt sein Lebenslicht.
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