Ich fordere Politiker immer wieder auf, sich den
ethisch – moralischen Fragen im Gesundheitswesen zu stellen. Besonders wenn es
um Sparmassnahmen geht, ist diese Auseinandersetzung zwingend. Hinter diesen
Fragen, stehen Menschen und ihre Schicksale. Frau Frieden (Name erfunden, nicht
geändert, ich weiss nicht mehr wie sie hiess, aber noch ganz genau, wie sie
aussah) ist eines dieser Schicksale…
Zu
spät gestorben
Es war an einem Samstag im Pflegeheim. Ich hatte
am Vortag frei gehabt und erfuhr so erst an diesem Morgen, dass ein Eintritt
kommen würde. Den spärlichen Unterlagen entnahm ich, dass Frau Frieden von
Zuhause kommen, an Lungenkrebs litt und die Situation palliativ sein würde.
Um 10.00 brachte die Ambulanz (nein, das ist
eigentlich nicht üblich), Frau Frieden auf die Station. Frau Frieden lag, vor
Schmerzen stöhnend und nach Luft schnappend auf der Trage. Aufgrund ihrer
schlechten Venenverhältnisse war es den Sanitätern nicht gelungen einen venösen
Zugang zu legen, um der Frau etwas gegen die Schmerzen zu geben. Der noch
liegende Port konnten sie mangels Material nicht anstechen. Subkutane
Injektionen waren ihnen nicht erlaubt (ich weiss nicht, ob das heute noch so
ist, aber damals war es so). So war Frau Frieden ohne adäquate
Schmerzmedikation transportiert worden.
Frau Frieden selbst war kaum mehr ansprechbar, das
Leiden und die Schmerzen waren ihr jedoch ins Gesicht geschrieben. Arztbericht
war keiner vorhanden, einzig ein Notizpapier auf dem mit die Spitex
aufgeschrieben hatte, wann Frau Frieden von ihnen das letzte Mal Morphin
subkutan erhalten hatte. Ich stand also da, alleine auf meiner Wohngruppe, mit
einer Patientin, die vor Schmerzen schrie und hatte null Verordnung, um dieser
Frau zu helfen.
Ich rief also als erstes in der
Gemeinschaftspraxis an, welche das (äusserst knappe) Einweisungszeugnis geschrieben
hatte. Nein, der zuständige Herr Doktor habe seit heute Ferien. Auf mein
insistieren, dass ich jetzt einfach einen Arzt ans Telefon brauche, wurde ich
dann mit der Vertretung verbunden. Diese kannte den Fall natürlich nicht, liess
sich aber erweichen, und verordnete mir das für die Patientin dringend
notwendige Morphin. Jedoch in einer Dosierung, von der ich wusste, dass es ihr
niemals die furchtbaren Schmerzen nehmen
würde. Nein, vorbei kommen könne sie nicht, sie habe die Praxis voll.
Ich fand schliesslich heraus, dass Frau Frieden
bis vor kurzem auf einer Palliativstation hospitalisiert war. Um Informationen
über die bereits bewusstlose Frau zu erhalten, rief ich dort an. Die
Pflegefachperson kannte Frau Frieden und gab mir die private Telefonnummer ihres
behandelnden Arztes auf der Palliativstation. Als sie den Namen nannte, fiel
mir ein Stein vom Herzen. Es war Dr. Merlin (ja, er heisst wirklich so). Mit
Dr. Merlin hatte ich schon einige Male bei Palliativsituationen
zusammengearbeitet. Mit klopfenden Herzen, da ich ihn ja an seinem freien Tag
störte, rief ich ihn an und schilderte die Situation. Und Dr. Merlin war mein
und vielleicht auch Frau Friedens rettender Engel. Noch am Telefon verordnete
er mir eine ausreichende Menge Morphin. Dann setzte er sich ins Auto und kam
her.
Von ihm erfuhr ich dann, wie Frau Frieden in
diesem desolaten Zustand auf meine Wohngruppe gelangt war: Frau Frieden war
drei Wochen auf der Palliativstation gewesen. Nach dieser Zeit war jedoch die
Kostengutsprache der Krankenkasse abgelaufen. Frau Frieden war also schlicht zu
wenig schnell gestorben. Da Frau Frieden zu diesem Zeitpunkt noch einigermassen
selbständig war, wurde sie mit Spitex nach Hause entlassen. Dort
verschlechterte sich ihr Zustand innerhalb einer Woche so dramatisch, dass am
Freitag notfallmässig ein Bett für sie gesucht werden musste. Die Krankenkasse
wollte nach so kurzer Zeit keine Kostengutsprache für die Palliativstation
machen, die Spitäler lehnten sie ebenfalls ab. Unsere Casemanagerin hatte
Mitleid und nahm die Frau auf. Dies ohne zu wissen, wie schlecht es der Frau
wirklich ging.
Dr. Merlin tätigte die für mich so wichtigen
Verordnungen. Bevor er ging sagte er zu mir: „Sie dürfen mich jederzeit
anrufen, wenn sie noch etwas brauchen, auch wenn Frau Frieden verstirbt, ich
komme dann und stelle den Tod fest (dies muss bei jedem Menschen der verstirbt
so sein). Frau Frieden hat es verdient, dass sich in ihren letzten Tagen noch
jemand zuständig fühlt.
Frau Frieden verstarb nach wenigen Tagen, ohne noch
einmal das Bewusstsein zu erlangen. Ihre Schmerzen konnten wir einigermassen
lindern. Frau Frieden verliess diese Welt in einer ihr fremden Umgebung,
umgeben von Menschen, die zwar ihr Bestes taten, um ihr ein würdevolles Sterben
zu ermöglichen, die sie aber nicht kannte. Beim Gedanken daran kommen mir noch
heute die Tränen. Es wäre anders möglich gewesen. Auf der Palliativstation, auf
der sie drei Wochen gewesen war, hatte sie sich noch dazu äussern können, was
sie sich wünschte, sie hatte Beziehungen zu den Pflegenden aufgebaut, es waren
alle Verordnungen und alle Möglichkeiten da, um ihr Leiden zu gering wie
möglich zu halten, aber weil sie nicht schnell genug gestorben ist, musste
diese Frau unendlich leiden. Sie ist durch sämtliche Maschen des Systems
gefallen, weil sie zu spät gestorben ist.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen