Samstag, 31. Oktober 2020

Es geht um Ethik und Moral

 


Der nachfolgende Text ist 3 Jahre alt. Eigentlich wollte ich ihn für heute mit der aktuellen Situation, sprich Covid 19 ergänzen. Doch ich lasse es. So wie er ist, bleibt er nach wie vor gültig. Mit diesen Dilemmas sind Pflegende tagtäglich konfrontiert. Geändert hat sich in den letzten Jahren kaum etwas. Und da wundern sich die Menschen dieses Landes, dass wir Pflegenden sagen, «Wir können bald nicht mehr?»

Ich bin nicht mehr bereit, diese Dilemmas alleine zu tragen. Dies geht alle an! Also setzt Euch damit auseinander.

Ich stütze mich bei diesem Beitrag auf die ethischen Prinzipien: Autonomie, Gutes tun, nicht schaden wollen, Gerechtigkeit. Als Denkanstoss nutze ich die Broschüre „Ethik und Pflegepraxis“ des SBK 2013.

Ich beginne mit der Autonomie. Ein Wort, welches mir immer wieder begegnet. Mir scheint, die Autonomie ist in der Schweiz ein wichtiges zentrales Gut. Schauen wir uns nur die Diskussion über die Billateralen Verträge oder den EU – Beitritt an. Fremde Richter? Kommt nicht in Frage! Ebenfalls in das Prinzip der Autonomie gehört die offenbar riesige Angst vor Abhängigkeit. Immer wieder höre und lese ich Statements wie: „Wenn ich mal nicht mehr selbst kann, mache ich Schluss.“ Gerade dies zeigt eines deutlich: Die Autonomie von Kranken ist in Gefahr. Sie ist in Gefahr, weil der Personalmangel dafür sorgt, dass es nicht der körperlich stark eingeschränkte Mensch ist, der bestimmt, wann er aufsteht, sondern der Zeitplan der Pflegenden. Es ist dem Personalmangel zu verdanken, dass Essen einfach eingegeben wird, weil es schneller geht, als den Betroffenen zu führen und ihn so zumindest das Tempo bestimmen zu lassen. Solche Förderungen sind jedoch schlicht unmöglich, weil sonst der/die Letzte erst um 14.00 Uhr sein/ihr Mittagessen bekommen würde. Es braucht Zeit, Angehörigen zu erklären, dass die Autonomie eines hochdementen Menschen bedeuten kann, ihn selbst herum gehen zu lassen, auch wenn man dadurch Stürze in Kauf nimmt. Zeit, die häufig nicht da ist, weil solche Gespräche nicht abgerechnet werden können. Das Selbe gilt für Beratungen, die meist spontan entstehen, wenn es um den Umgang mit bestimmten Krankheitssymptomen geht. Einfach die Reservemedikation verabreichen, geht schneller. Der Betroffene bleibt jedoch hilflos, kann seine Genesung nicht selbst beeinflussen.

Es braucht Zeit, gebrechliche alte Menschen nachts auf die Toilette zu begleiten, der Topf geht viel schneller. Und gerade in der Nacht, in der Pflegende oft alleine sind, zählt jede Minute. Autonomie wird als so wichtig betrachtet, kann jedoch nicht gemessen und auch nicht bezahlt werden, und deshalb kommt sie in den strategischen Überlegungen von Politik und Wirtschaft nicht vor.

Gutes tun, ist jenes Prinzip, welches so deutlich zeigt, weshalb jedes noch so ausgeklügelte Computersystem, jeder noch so menschlich aussehende Roboter niemals Pflegende ersetzen kann. Leider ist es auch das Prinzip, welches nicht in Zahlen ausgedrückt werden kann. Somit ist es unbezahlbar. Gutes tun ist dann gefragt, wenn Menschen eine lebensbedrohliche Diagnose erhalten. Es sind jene Minuten, die sich Pflegende nehmen, um eine Hand zu halten. Es ist die Anteilnahme gegenüber Angehörigen, für die gerade in diesem Moment die Welt stehen geblieben ist, weil ein ihnen lieber Mensch verstorben ist. Gutes tun, ist das, was nicht gelernt werden kann und ein Teil dessen, was wir Berufung nennen.

Wenn Pflegende sich nicht mehr die Zeit nehmen können, um einen Patienten zum Essen zu motivieren, ist Gutes tun, weit weg. Es ist in Gefahr, wenn Pflegende nicht mehr die Kraft haben, sich für einen schmerzgeplagten Patienten einzusetzen, damit dieser eine angemessene Analgesie erhält.

 

So banal das Prinzip nicht schaden wollen daher kommt, so vielschichtig und gefährdet ist es. Es ist gefährdet, wenn Pflegende keine Chance mehr haben, Patientenrufe innert nützlicher Frist zu beantworten. Ein Ruf, heisst immer, jemand braucht etwas, etwas, das für sein Wohlbefinden wichtig ist. Manchmal ist sogar Leib und Leben davon abhängig, dass jetzt dieser Ruf beantwortet wird. Dem Ruf ist jedoch nicht anzusehen, wo welche Not herrscht.

Das Beispiel des Patienten in seinen Exkrementen, habe ich schon häufig benutzt. Dabei geht es nicht ausschliesslich um das Prinzip nicht schaden wollen, aber es ist bei diesem Beispiel von zentraler Bedeutung. Wie erniedrigend und würdelos es für einen Menschen sein muss, in seinen eigenen Körperflüssigkeiten zu liegen, brauche ich nicht zu erklären. Auch das richtet Schaden an. Ein weiterer Aspekt ist aber auch die Haut, die durch diese Körperflüssigkeiten aufgeweicht und beschädigt wird. Nicht schaden wollen heisst, demente Menschen nicht mit körperlicher Gewalt zur Körperpflege zu zwingen, sondern den richtigen Moment abzuwarten, oder sogar zu schaffen. Dies gelingt jedoch nur, wenn zeitliche und personelle Ressourcen vorhanden sind.

 

Gerechtigkeit. Wenn ich dieses Wort lese, kommt mir unweigerlich die französische Revolution in den Sinn. Aber darum geht es hier ja nicht. Obwohl, eine Revolution für die Gerechtigkeit, wäre im Gesundheitswesen durchaus angebracht.

Ich frage mich nämlich schon, wo diese Gerechtigkeit ist. Wo ist sie, wenn Einrichtungen um Geld zu sparen, Schutzhandschuhe und Inkontinenzeinlagen rationieren? Solche Zustände gibt es, in Deutschland sind sie öffentlich gemacht worden, aber ich bin überzeugt, dass es solche Dinge auch in der Schweiz gibt. Ich vermisse die Gerechtigkeit, wenn die Versicherung bestimmt, wer in einem Einzel – oder Mehrbettzimmer liegt und nicht der Gesundheitszustand. Ich weiss, wieviel Überzeugungsarbeit Bettendisponenten leisten müssen, wenn ein Patient aufgrund seines Zustandes in ein Einzelzimmer verlegt werden muss.

Ich vermisse die Gerechtigkeit, wenn Pflegende ihre wertvolle Zeit mit immer mehr administrativen Aufgaben verbringen müssen. Da gibt es teilweise echt absurdes zu sehen. Der Umstand, dass Pflegende in vielen Institutionen von anderen Disziplinen Aufgaben zugeschustert bekommen, ist nicht gerecht. Diese Aufgaben reichen von Frühstücksgeschirr abwaschen bis Abfallsäcke leeren. Frei nach dem Motto: Könnte die Pflege nicht noch…Dafür bekommen Pflegende nichts zurück, kein Geld, keine Zeit. Wo ist da die Gerechtigkeit?

 

Dies sind nur ein paar Gedanken einer Pflegehexe und nur ein Bruchteil dessen, was an ethischen und moralischen Konflikten auf dem Rücken der Pflegenden ausgetragen wird. Jede Sparrunde der Kantone und des Bundes hat dieses Problem noch verschärft und nun stehen wir kurz vor der ethisch moralischen Katastrophe. Von den Politikern verlange ich, dass sie sich dem stellen, sie haben diesen Beruf gewählt, sie müssen die Verantwortung übernehmen. Auch die Pflegenden haben diesen Beruf (für mich gibt es noch immer keinen schöneren) gewählt, es ist jetzt an ihnen, sich für die Wahrung der ethischen Prinzipien einzusetzen. Sei dies im Kleinen an ihrem Arbeitsplatz (alles muss nicht hingenommen werden), in Diskussionen im Familien – oder Freundeskreis oder im Grossen, durch zeitliches Engagement in Berufsverbänden, Parteien oder Gewerkschaften.

Aber auch alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes sind gefragt, wenn es darum geht, ob und wie die ethischen Prinzipien im Gesundheitswesen ihren Platz haben. Sie sind es nämlich, die wählen und abstimmen. Sie sind es, die bestimmen, wer bei den nächsten Sparrunden entscheidet, wo Geld eingespart wird.

In diesem Sinne wünsche ich unseren Politikern den Mut, sich diesen schwierigen und ebenso wichtigen Themen zu stellen, den Pflegenden die Kraft, weiterhin alles in ihrer Macht stehende zu tun, dass die ethischen Prinzipien in ihren Arbeitsbereichen gelebt werden können und den Bürgerinnen und Bürgern, die Weitsicht, Volksvertreter zu wählen, die bereit sind die Ethik über den Profit zu stellen.

 

Madame Malevizia

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