Meine Lieben,
Die ersten 4 Jahre meiner beruflichen Laufbahn
verbrachte ich als Pflegefachfrau in einer Psychiatrischen Klinik. Ich
arbeitete auf einer akuten geschlossenen Aufnahme. Mit der Somatik verglichen,
entspricht dies ungefähr einer Intensivstation. Es geht um Leben und Tod. Auch
bei Herrn Mon (Name geändert), ging es um nicht weniger.
Der
Schlüssel
Herr Mon, war ein junger Mann, so um die 21 Jahre
glaube ich. Eingewiesen wurde er wegen eines mutistischen Zustandsbildes. Das
heisst, Herr Mon, sprach nicht mehr, sah nur noch durch einen hindurch. Es
dauerte eine Weile, bis es möglich war, einen Kontakt zu ihm herzustellen und
er wieder an der Aussenwelt teilnahm. Als Diagnose wurde eine starke Depression
festgestellt. Herr Mon war eigentlich auf dem Weg der Besserung, aber noch
immer schwer einzuschätzen, weshalb er auch noch keinen Ausgang hatte.
Es war in einem Spätdienst, als Herr Mon zu mir kam
und mich um ein Gespräch bat. Soweit war dies nichts ungewöhnliches, obwohl Herr
Mon bisher eher den Kontakt zu den männlichen Pflegenden gesucht hatte. Ich bat
ihn also in unseren Gesprächsraum. Dieser war relativ gross, ein runder Tisch
mit vielen Stühlen. Wir setzten uns und ich wartete. Einen Moment druckste er
herum und ich dachte schon, ich müsste ihm wohl helfen, damit das Gespräch in Gang
kommt. Dann blickte er mich mit seinen blauen Augen direkt an und sagte mit
klarer Stimme: «Ich will, dass Sie mir Ihren Schlüssel geben.» Perplex blickte
ich ihn an und nahm unbewusst meinen Schlüssel in die Hand. Er meinte jenen
Schlüssel, mit dem die Station abgeschlossen wurde. «Was möchten Sie denn damit
tun?» fragte ich. Dass er wahrscheinlich raus wollte, war mir klar. Aber was
wollte er da draussen? Ging es darum, dass er sich eingesperrt fühlte und er
deshalb raus wollte? In meinem Kopf überlegte ich mir Alternativen. Vielleicht
könnte ich ein wenig Zeit rausschinden und mit ihm noch kurz spazieren gehen. «Ich
will raus, weil ich mich jetzt umbringen will.» erklärte er, noch immer
seelenruhig. Einen kurzen Augenblick war ich wie vom Donner gerührt. Ich fasste
mich jedoch schnell. «Und wie stellen Sie sich das vor?» fragte ich. Meine
Absicht war es heraus zu finden, wie weit seien Suizidpläne denn schon waren. Dies
würde mir helfen abzuschätzen, wie gefährdet er wirklich war. «Sie geben mir
den Schlüssel, ich gehe raus und unter den nächsten Zug.» sagte er. «Das kann
ich nicht. Ich kann Ihnen meinen Schlüssel nicht einfach geben.» Das weitere
Gespräch kann ich beim besten Willen nicht mehr wiedergeben. Minutenlang
drehten wir uns im Kreis. Unsere Standpunkte hätten unterschiedlicher nicht
sein können. Er wollte für sich den Tod, ich für ihn das Leben. Es hatte keinen
Sinn, Herrn Mon auf sein jugendliches Alter und was er noch alles vor sich
hatte, aufmerksam zu machen. Ich wusste, er wollte jetzt einfach sterben. Und
hatte mich ausgesucht, ihm dabei zu helfen. Er wollte meinen Schlüssel und so von
mir so etwas, wie die Erlaubnis, seine Pläne in die Tat umzusetzen. «Geben Sie
mir den Schlüssel» forderte er wieder. Und ich schüttelte nur den Kopf. Ich
würde das nicht zulassen. Herr Mon war ein heller Kopf. Und nicht nur das, er
verfügte über ausgeprägte soziale Kompetenzen. Er hatte Potential, auch das Potential
sich ein gutes Leben aufzubauen. «Ich werde um meinen Schlüssel kämpfen.»
erklärte ich ihm fest. Im Wissen, dass ich ihm körperlich unterlegen war. Es
war mein letzter Versuch, zu ihm durchzudringen. Leider ohne Erfolg. «Geben Sie
ihn mir.» Ich glaube es war einzig seine gute Erziehung, die ihn daran
hinderte, mir den Schlüssel mit Gewalt abzunehmen. Aber ich wollte es auch
nicht länger darauf ankommen lassen. Ich löste den Alarm, welchen ich immer bei
mir trug, aus. Innert Minuten waren weitere Pflegefachpersonen im Raum. In
kurzen Sätzen erklärte ich, was sich zugetragen hatte. Der Dienstarzt wurde
hinzugezogen. Auch dort äusserte Herr Mon seine Suizidabsichten. Er konnte
keine Versprechen abgeben, dass er sich heute Nacht nichts antun würde. Auch
nicht für die nächste Stunde oder auch nur für die nächsten 15 Minuten. Auf
Reservemedikation ging er nicht ein. Er wollte sterben, heute. Aufgrund seiner
hohen Selbstgefährdung, wurde Herr Mon schliesslich fixiert. Dabei ging er auch
auf das Angebot der Reservemedikation ein. Herr Mon wehrte sich nicht, als er
von meinen Kollegen und mir fixiert wurde. Aber seinen Blick, werde ich niemals
vergessen. Ich hatte ihn zum Leben gezwungen. Und so hart es auch war, ich
würde es auch heute wieder tun.
Einen Tag später erhielt ich von Herrn Mon einen
Brief. Ich besitze ihn noch heute. Er entschuldigte sich, für sein Verhalten.
Ein Satz, ist für mich bis heute der Wichtigste: «Man wird so egoistisch, wenn
man sich das Leben nehmen will.» Dieser Satz erklärte mir eindrücklich, was die
Theorie mit dem «Tunnelblick» meinte. Als ich später zu Herr Mon ging, der
inzwischen aus der Fixation gelöst war erklärte ich ihm: «Sie müssen sich nicht
bei mir entschuldigen. Sondern bei sich selbst. Sie wollten sich etwas antun,
nicht mir.» Herr Mon. war schlussendlich froh, seine suizidale Krise überlebt
zu haben. Er setzte alles daran, sich früher zu melden, wenn die suizidalen Gedanken
kamen.
Ich weiss nicht, was aus ihm geworden ist. Aber,
romantisch wie ich nun einmal bin, rede ich mir ein, dass er es geschafft hat.
Dass er die Schatten der Depression in den Griff bekommen hat und das Potential
seines Lebens ausschöpft.
Eure Madame Malevizia.
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