Herr
Brunner war der jüngste auf der Wohngruppe. Auch er litt an einer unheilbaren
Nervenerkrankung, die ihn zunehmend behinderte und einschränkte. Herrn Brunner
wurde noch vor uns Pflegenden klar, dass er bald nicht einmal mehr annährend das
Leben eines gesunden jungen Mannes führen würde.
Es
kam deshalb für viele von uns wie aus heiterem Himmel, als Herr Brunner einen
Suizidversuch machte. Nur mit viel Mühe konnte ein Pflegender ihn daran
hindern, vor den Zug zu springen. Notfallmässig wurde Herr Brunner in die
geschlossene Psychiatrie eingewiesen. Allen war bewusst: das Problem war so nur
verschoben, keinesfalls gelöst.
Herr
Brunner war in seinen Äusserungen sehr klar. Er würde es wieder versuchen.
„Wenn ich es jetzt nicht mache, wird es zu spät sein.“ Wir alle wussten, er hatte
Recht.
Die
Situation wurde besprochen.
In
der Direktion, wo die Haltung klar war: Nicht im Heim.
Im
Team. Die Haltungen waren zwar unterschiedlich, doch eines sahen wir alle
gleich: Lieber ein geplanter Freitod, als Herrn Brunner und auch seinen
Mitbewohnern den Stress eines Suizids zu zumuten.
Mit
Herrn Brunner und seinen Angehörigen. Sie unterstützten Herrn Brunner in seinem
Wunsch und nahmen es auch auf sich, mit ihm diesen Freitod mit Exit zu planen. Sie
waren es auch, die Herrn Brunner zusammen mit Exit in den Freitod begleiteten.
Es
dauerte einige Wochen, bis alles geklärt war und Herr Brunner sein Todesdatum
nannte. Mit dem Wissen dieses Datums wurde für mich alles anders. Eine grosse
graue Last legte sich auf mich.
Ich
bin sicher, es ging auch anderen im Team so. So ein Sterben hatten wir alle
noch nie erlebt und jeder reagierte anders.
Zusammen
mit unserer Supervisorin besprachen wir die Situation. Es gab für uns mehrere
Dinge zu klären: Wie können die anderen Bewohner von Herrn Brunner Abschied
nehmen? Wie sollen wir dies kommunizieren? Sollen wir den Freitod transparent
machen? Und wenn ja, vorher oder erst wenn es passiert ist?
Und
wie können wir Herrn Brunner begleiten? Wer vom Team kann was geben?
Wir
fragten Herrn Brunner, was er möchte. Auch da hatte Herr Brunner sehr klare
Vorstellungen. Er würde seinen Mitbewohner seine Entscheidung mitteilen. Und er
wünschte sich ein Abschiedsfest. Mit Kaffee und Kuchen.
Im
Team beschlossen wir, unsere Lernenden zu schützen. Wir sprachen einzeln mit
ihnen und boten ihnen an, an Herrn Brunners Todestag frei zu bekommen. Es war
ein Angebot und uns ganz wichtig, dass sie selbst entschieden, was sie
brauchten. Sie alle nahmen dieses Angebot an.
Ein
Pflegender traute sich zu der Letzte zu sein, der Herrn Brunner bei der
Körperpflege half.
Ich
war an besagtem Tag auf den Spätdienst geplant. Ich wusste also, wenn ich
komme, würde Herr Brunner schon nicht mehr leben. Für mich stimmte das. Ich
wusste noch aus meiner Zeit in der Akutpsychiatrie, wie wichtig die Begleitung
der anderen Patienten nach einem Suizid war. Für die Bewohner, die alle in
einer ähnlichen Lage wie Herr Brunner waren da sein, das konnte ich.
Herr
Brunner bekam wenige Tage vor seinem Todesdatum sein Abschiedsfest. Es war
friedlich und erstaunlich entspannte Stimmung.
Die
Tage vor dem Freitod gehören für mich zu den schwersten in meiner gesamten
Laufbahn als Pflegende. Die Last, die ich fühlte war riesig. Ich akzeptierte
Herrn Brunners Entscheid.
Daran
lag es nicht. Aber die ganze Situation kam mir so widernatürlich vor. So lange
im Voraus das Todesdatum eines Menschen zu wissen, war einfach grotesk.
Ihn
nicht in seinen letzten Stunden begleiten zu können, schmerzte.
Als
ich dann an jenem Tag (ich weiss das Datum beim besten Willen nicht mehr), zum
Spätdienst kam, stand vor Herrn Brunners Zimmer bereits das dekorierte Tischli
mit einer brennenden Kerze darauf.
Im
Spätdienst nahm ich mir bewusst für jeden einzelnen Bewohner Zeit. Fragte, ob
sie etwas brauchen, ob sie sprechen möchten. Aber auch Schweigen war in Ordnung.
Noch
heute bin ich der Institution dankbar, dass sie uns Pflegende mit der
Entscheidung, Exit nicht in seine Räume zu lassen geschützt hat. Ich weiss,
einige sehen das bestimmt anders. Finden, man müsse auch diesen Wunsch eines
Freitod – Willigen berücksichtigen. Ich finde aber: Es gibt auch eine Grenze.
Auch Pflegende haben das Recht auf Schutz und müssen nicht alles tragen können.
Meine Grenze beginnt da, wo ich Teil des „Selbstötungsaktes“ werden muss.
Die
Sorgfalt im Team, zu schauen, wer kann was geben, hat uns auch einiges an
Kritik eingebracht. Es gab Stimmen die fanden, das sei doch nichts anderes als
wenn jemand sonst sterbe.
Ich
sage: nein, es ist völlig anders. Sollte ich nochmals in so eine Situation
kommen, werde ich alles dafür tun, dass sich niemand im Team überfordern muss.
Tragt
Sorge zu Euch!
In
Liebe
Madame
Malevizia
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