Freitag, 18. Mai 2018

Wenn Exit das kleinere Übel ist


Herr Brunner war der jüngste auf der Wohngruppe. Auch er litt an einer unheilbaren Nervenerkrankung, die ihn zunehmend behinderte und einschränkte. Herrn Brunner wurde noch vor uns Pflegenden klar, dass er bald nicht einmal mehr annährend das Leben eines gesunden jungen Mannes führen würde.

Es kam deshalb für viele von uns wie aus heiterem Himmel, als Herr Brunner einen Suizidversuch machte. Nur mit viel Mühe konnte ein Pflegender ihn daran hindern, vor den Zug zu springen. Notfallmässig wurde Herr Brunner in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen. Allen war bewusst: das Problem war so nur verschoben, keinesfalls gelöst.

Herr Brunner war in seinen Äusserungen sehr klar. Er würde es wieder versuchen. „Wenn ich es jetzt nicht mache, wird es zu spät sein.“ Wir alle wussten, er hatte Recht.

Die Situation wurde besprochen.
In der Direktion, wo die Haltung klar war: Nicht im Heim.
Im Team. Die Haltungen waren zwar unterschiedlich, doch eines sahen wir alle gleich: Lieber ein geplanter Freitod, als Herrn Brunner und auch seinen Mitbewohnern den Stress eines Suizids zu zumuten.
Mit Herrn Brunner und seinen Angehörigen. Sie unterstützten Herrn Brunner in seinem Wunsch und nahmen es auch auf sich, mit ihm diesen Freitod mit Exit zu planen. Sie waren es auch, die Herrn Brunner zusammen mit Exit in den Freitod begleiteten.

Es dauerte einige Wochen, bis alles geklärt war und Herr Brunner sein Todesdatum nannte. Mit dem Wissen dieses Datums wurde für mich alles anders. Eine grosse graue Last legte sich auf mich.
Ich bin sicher, es ging auch anderen im Team so. So ein Sterben hatten wir alle noch nie erlebt und jeder reagierte anders.

Zusammen mit unserer Supervisorin besprachen wir die Situation. Es gab für uns mehrere Dinge zu klären: Wie können die anderen Bewohner von Herrn Brunner Abschied nehmen? Wie sollen wir dies kommunizieren? Sollen wir den Freitod transparent machen? Und wenn ja, vorher oder erst wenn es passiert ist?
Und wie können wir Herrn Brunner begleiten? Wer vom Team kann was geben?

Wir fragten Herrn Brunner, was er möchte. Auch da hatte Herr Brunner sehr klare Vorstellungen. Er würde seinen Mitbewohner seine Entscheidung mitteilen. Und er wünschte sich ein Abschiedsfest. Mit Kaffee und Kuchen.

Im Team beschlossen wir, unsere Lernenden zu schützen. Wir sprachen einzeln mit ihnen und boten ihnen an, an Herrn Brunners Todestag frei zu bekommen. Es war ein Angebot und uns ganz wichtig, dass sie selbst entschieden, was sie brauchten. Sie alle nahmen dieses Angebot an.
Ein Pflegender traute sich zu der Letzte zu sein, der Herrn Brunner bei der Körperpflege half.
Ich war an besagtem Tag auf den Spätdienst geplant. Ich wusste also, wenn ich komme, würde Herr Brunner schon nicht mehr leben. Für mich stimmte das. Ich wusste noch aus meiner Zeit in der Akutpsychiatrie, wie wichtig die Begleitung der anderen Patienten nach einem Suizid war. Für die Bewohner, die alle in einer ähnlichen Lage wie Herr Brunner waren da sein, das konnte ich.

Herr Brunner bekam wenige Tage vor seinem Todesdatum sein Abschiedsfest. Es war friedlich und erstaunlich entspannte Stimmung.

Die Tage vor dem Freitod gehören für mich zu den schwersten in meiner gesamten Laufbahn als Pflegende. Die Last, die ich fühlte war riesig. Ich akzeptierte Herrn Brunners Entscheid.
Daran lag es nicht. Aber die ganze Situation kam mir so widernatürlich vor. So lange im Voraus das Todesdatum eines Menschen zu wissen, war einfach grotesk.
Ihn nicht in seinen letzten Stunden begleiten zu können, schmerzte.

Als ich dann an jenem Tag (ich weiss das Datum beim besten Willen nicht mehr), zum Spätdienst kam, stand vor Herrn Brunners Zimmer bereits das dekorierte Tischli mit einer brennenden Kerze darauf.

Im Spätdienst nahm ich mir bewusst für jeden einzelnen Bewohner Zeit. Fragte, ob sie etwas brauchen, ob sie sprechen möchten. Aber auch Schweigen war in Ordnung.


Noch heute bin ich der Institution dankbar, dass sie uns Pflegende mit der Entscheidung, Exit nicht in seine Räume zu lassen geschützt hat. Ich weiss, einige sehen das bestimmt anders. Finden, man müsse auch diesen Wunsch eines Freitod – Willigen berücksichtigen. Ich finde aber: Es gibt auch eine Grenze. Auch Pflegende haben das Recht auf Schutz und müssen nicht alles tragen können. Meine Grenze beginnt da, wo ich Teil des „Selbstötungsaktes“ werden muss.
Die Sorgfalt im Team, zu schauen, wer kann was geben, hat uns auch einiges an Kritik eingebracht. Es gab Stimmen die fanden, das sei doch nichts anderes als wenn jemand sonst sterbe.
Ich sage: nein, es ist völlig anders. Sollte ich nochmals in so eine Situation kommen, werde ich alles dafür tun, dass sich niemand im Team überfordern muss.

Tragt Sorge zu Euch!
In Liebe
Madame Malevizia

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