Dienstag, 10. März 2020

Sibylle - ein fürsorgliches Mutterherz


Es fühlt sich ein wenig an, wie ein Blind Date, als ich an diesem Februarnachmittag aus dem Zug steige. Auch Sibylle hat ähnliche Gedanken. Später gesteht sie mir, dass sie kurz bevor wir uns gefunden haben, es durchaus als Option sah, einfach abzuhauen. Doch dann treffen wir aufeinander und es passiert, was fast immer passiert, wenn ich auf Berufskolleginnen treffe: Wir erkennen uns, als vom gleichen Clan. Und so stecken wir schon auf dem Weg ins Café mitten in einem angeregten Austausch über unsere Leben.

Dass Sibylle Pflegefachfrau wurde, war nicht geplant. Sibylle war gerne Schülerin, das Lernen fiel ihr leicht. Mit 16 Jahren machte sie ihr erstes Praktikum in einem Spital. Als sie dann die Kantonsschule besuchte, absolvierte sie während der Schulferien weitere Praktika. Ab da war für Sibylle klar, dass sie in die Pflege wollte. Dass es dann eine Ausbildung zur Krankenschwester KWS (Kinder/Wochenbett/ Säuglinge) wurde, war eher wieder Zufall. Sie machte die Eignungsprüfung für die Schule am Kinderspital. Und entgegen ihrer Erwartungen wurde sie angenommen. Mit einem Schmunzeln erzählt sie mir, sie sei damals gefragt worden, ob sie technisch begabt sei. Diese Frage habe sie verneinen müssen. Heute reiche ihr technisches Geschick jedenfalls, um die Gerätschaften mit denen sie hantieren muss, zu bedienen. Sibylle absolvierte also die dreijährige Ausbildung. Diese sei vielseitig gewesen und sie habe da schon viel erlebt. Danach arbeitete sie auf der Gynäkologie und im Gebärsaal, eigentlich mit der Option, baldmöglichst zu den Kindern wechseln zu dürfen. Als sie immer wieder vertröstet wurde, wechselte Sibylle den Arbeitgeber. Seitdem arbeitet sie in einem Kinderspital. Zuerst auf den Bettenstationen, seit 2000 auf dem Kindernotfall.

Sibylle liebt ihren Beruf, doch auch sie hat ihre Krisen erlebt und ihr Tun hinterfragt. Als sie 2014 spürte, dass sie die Geduld nicht mehr hatte - vor allem die fordernden Eltern setzten ihr zu - bat sie um ein Time out. So machte sie dann drei Monate Bettendisposition und nahm drei Monate unbezahlten Urlaub. In dieser Zeit geschah das, was immer passiert, wenn sie länger von ihrer Arbeit und vor allem vom Bett weg ist. Sie vermisste «es». Sie vermisste das Team, die Patienten und auch die Eltern, die sie nun auch wieder als das sehen konnte, was sie waren: verängstigt, überfordert. Seitdem ist es für Sibylle nie mehr zur Debatte gestanden das «Bett» - oder wie ich sage, die Front - wieder zu verlassen. Dafür hat Sibylle verschiedene Gründe:
Das Team ist für sie zentral. Ein interdisziplinäres Team, dass zusammenhält und sich dann, wenn es wirklich abgeht, gegenseitig unterstützt, ist aus ihrer Sicht auf dem Kindernotfall unabdingbar.

Auch ihr Arbeitgeber trägt viel dazu bei, dass Sibylle gesund bleiben und ihre Arbeit mit vollem Einsatz machen kann. So konnte Sibylle nach ihren Mutterschaftsurlauben immer im tiefen Pensum wieder einsteigen. Auch erlebt sie auf verschiedenen Ebenen grosse Wertschätzung. Für sie sind es die kleinen Dinge, in denen sich diese zeigt. In der Offenheit und Transparenz mit welcher Vorgesetzte kommunizieren, in dem einfachen «Danke» nach der Schicht. Im Nachfragen, wie es ihr denn gehe. Nach belastenden Situationen wird ein Debriefing gemacht und das Care - Team steht jedem zur Verfügung, der Bedarf hat.

Sibylle ist der Überzeugung, dass auch die Persönlichkeitsstruktur wichtig ist, um in diesem so anspruchsvollen Beruf zu bestehen. «Es braucht ein starkes Gegengewicht. Nur für das Spital zu leben ist nicht gesund», sagt sie. Dieses Gegengewicht hat Sibylle. An erster Stelle kommen da ihre Kinder, dicht gefolgt von ihren zwei Pferden. Überhaupt ist Sibylle ein aktiver Mensch, ist gerne draussen in der Natur. Aber auch das Wissen «Ich muss nicht, ich darf» hilft ihr.

Mit diesem starken Gegengewicht konnte Sibylle sich ihre Persönlichkeit bewahren. Sie hat sich ihre Emotionalität nicht nehmen lassen und sieht diese inzwischen auch als Stärke. Es geht nicht spurlos an ihr vorbei, wenn ein Kind im Schockraum stirbt oder ein Kind die Diagnose Krebs erhält. Manchmal weint sie dann auch mit den Eltern, die gerade auf brutale Weise ihr Kind verloren haben oder vor einem langen beschwerlichen Weg stehen. «Zuhause muss ich dann meine beiden Kinder in den Arm nehmen, voller Dankbarkeit, dass sie gesund und munter bei mir sind.» Sibylle will sich nicht einfach mit den Gegebenheiten abfinden. Sie will etwas tun. Als eine Mutter, deren Kind aspirierte fragte, warum man das, was man im Alltag mit Kindern wirklich brauche, nicht im Nothelferkurs lerne, haben sich Sibylle und eine Kollegin gesagt: «Das können wir machen.» Sie gründeten „Erste Hilfe im Kinderzimmer.ch“. Damit traten sie in eine Marktlücke. Inzwischen geben sie viele Kurse in Schulen, Kinderkrippen, Arztpraxen und auch direkt bei Familien zuhause.
In Sibylle erkenne ich ein fürsorgliches Mutterherz, dass nicht nur für ihre Patienten und deren Angehörigen schlägt, sondern auch für ihre Arbeitskolleginnen und Kollegen. Und als ich sie frage, was sie tun würde, um die Verweildauer von Pflegenden am Bett zu erhöhen, muss sie nicht lange nachdenken.

«Das Wichtigste ist ein guter Ausgleich, egal was, Hauptsache etwas, das den Fokus auf etwas anderes lenkt und bei dem aufgetankt werden kann. Um das zu ermöglichen, muss das Arbeitspensum angepasst werden. 100% zu arbeiten verunmöglicht die Selbstpflege, respektive verhindert, ein wirksames Gegengewicht zu pflegen.» Ebenfalls ist es aus ihrer Sicht unabdingbar fürsorglich mit sich selbst umzugehen. Die eigenen Grenzen zu kennen und diese auch zu setzen. Das bedeute, auch mal Nein  zu sagen. Als Teammensch sieht sie auch dort viel Potential. Sie legt viel Wert auf einen Umgang auf Augenhöhe, auf das Arbeiten Hand in Hand und die Anerkennung der verschiedenen Berufsgruppen. «Nur gemeinsam sind wir stark und können die hohen Anforderungen unseres Alltags meistern.»

Danke, liebe Sibylle, dass Du mir Dein fürsorgliches Mutterherz geöffnet hast. 

Madame Malevizia


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