Es
fühlt sich ein wenig an, wie ein Blind Date, als
ich an diesem Februarnachmittag aus dem Zug steige. Auch Sibylle hat
ähnliche Gedanken. Später gesteht sie mir, dass sie kurz bevor wir uns gefunden
haben, es durchaus als Option sah, einfach abzuhauen. Doch dann treffen wir
aufeinander und es passiert, was fast immer passiert, wenn ich auf Berufskolleginnen
treffe: Wir erkennen uns, als vom gleichen Clan. Und so stecken wir schon auf
dem Weg ins Café mitten in einem angeregten Austausch über unsere Leben.
Dass
Sibylle Pflegefachfrau wurde, war nicht geplant. Sibylle war gerne Schülerin, das
Lernen fiel ihr leicht. Mit 16 Jahren machte sie ihr erstes Praktikum in einem
Spital. Als sie dann die Kantonsschule besuchte, absolvierte sie während der
Schulferien weitere Praktika. Ab da war für Sibylle klar, dass sie in die
Pflege wollte. Dass es dann eine Ausbildung zur Krankenschwester KWS (Kinder/Wochenbett/
Säuglinge) wurde, war eher wieder Zufall. Sie machte die Eignungsprüfung für
die Schule am Kinderspital. Und entgegen ihrer Erwartungen wurde sie
angenommen. Mit einem Schmunzeln erzählt sie mir, sie sei damals gefragt
worden, ob sie technisch begabt sei. Diese Frage habe sie verneinen müssen.
Heute reiche ihr technisches Geschick jedenfalls, um die Gerätschaften mit
denen sie hantieren muss, zu bedienen. Sibylle
absolvierte also die dreijährige Ausbildung. Diese sei vielseitig gewesen und
sie habe da schon viel erlebt. Danach arbeitete sie auf der Gynäkologie und im
Gebärsaal, eigentlich mit der Option, baldmöglichst zu den Kindern wechseln zu
dürfen. Als sie immer wieder vertröstet wurde, wechselte Sibylle den
Arbeitgeber. Seitdem arbeitet sie in einem Kinderspital. Zuerst auf den
Bettenstationen, seit 2000 auf dem Kindernotfall.
Sibylle
liebt ihren Beruf, doch auch sie hat ihre Krisen erlebt und ihr Tun
hinterfragt. Als sie 2014 spürte, dass sie die Geduld nicht mehr hatte - vor allem die fordernden Eltern setzten ihr zu - bat
sie um ein Time out. So machte sie dann drei Monate Bettendisposition und nahm
drei Monate unbezahlten Urlaub. In dieser Zeit geschah das, was immer passiert,
wenn sie länger von ihrer Arbeit und vor allem vom Bett weg ist. Sie vermisste
«es». Sie vermisste das Team, die Patienten und auch die Eltern, die sie nun
auch wieder als das sehen konnte, was sie waren: verängstigt, überfordert. Seitdem
ist es für Sibylle nie mehr zur Debatte gestanden das «Bett» - oder wie ich
sage, die Front - wieder zu verlassen. Dafür hat Sibylle verschiedene Gründe:
Das
Team ist für sie zentral. Ein interdisziplinäres Team, dass zusammenhält
und sich dann, wenn es wirklich abgeht, gegenseitig unterstützt, ist aus ihrer
Sicht auf dem Kindernotfall unabdingbar.
Auch
ihr Arbeitgeber trägt viel dazu bei, dass Sibylle gesund bleiben und ihre
Arbeit mit vollem Einsatz machen kann. So konnte Sibylle nach ihren Mutterschaftsurlauben
immer im tiefen Pensum wieder einsteigen. Auch erlebt sie auf verschiedenen
Ebenen grosse Wertschätzung. Für sie sind es die kleinen Dinge, in denen sich
diese zeigt. In der Offenheit und Transparenz mit welcher Vorgesetzte
kommunizieren, in dem einfachen «Danke» nach der Schicht. Im Nachfragen, wie es
ihr denn gehe. Nach belastenden Situationen wird ein Debriefing gemacht und das
Care - Team steht jedem zur Verfügung, der Bedarf hat.
Sibylle
ist der Überzeugung, dass auch die Persönlichkeitsstruktur wichtig ist, um in
diesem so anspruchsvollen Beruf zu bestehen. «Es braucht ein starkes
Gegengewicht. Nur für das Spital zu leben ist nicht gesund», sagt sie. Dieses
Gegengewicht hat Sibylle. An erster Stelle kommen da ihre Kinder, dicht gefolgt
von ihren zwei Pferden. Überhaupt ist Sibylle ein aktiver Mensch, ist gerne
draussen in der Natur. Aber auch das Wissen «Ich muss nicht, ich darf» hilft
ihr.
Mit
diesem starken Gegengewicht konnte Sibylle sich ihre Persönlichkeit bewahren.
Sie hat sich ihre Emotionalität nicht nehmen lassen und sieht diese inzwischen
auch als Stärke. Es geht nicht spurlos an ihr vorbei, wenn ein Kind im
Schockraum stirbt oder ein Kind die Diagnose Krebs erhält. Manchmal weint sie
dann auch mit den Eltern, die gerade auf brutale Weise ihr Kind verloren haben oder
vor einem langen beschwerlichen Weg stehen. «Zuhause muss ich dann meine beiden
Kinder in den Arm nehmen, voller Dankbarkeit, dass sie gesund und munter bei
mir sind.» Sibylle will sich nicht einfach mit den Gegebenheiten abfinden. Sie
will etwas tun. Als eine Mutter, deren Kind aspirierte fragte, warum man das,
was man im Alltag mit Kindern wirklich brauche, nicht im Nothelferkurs lerne,
haben sich Sibylle und eine Kollegin gesagt: «Das können wir machen.» Sie
gründeten „Erste Hilfe im Kinderzimmer.ch“. Damit traten sie in eine Marktlücke. Inzwischen geben sie viele Kurse in Schulen,
Kinderkrippen, Arztpraxen und auch direkt bei Familien zuhause.
In
Sibylle erkenne ich ein fürsorgliches Mutterherz, dass nicht nur für
ihre Patienten und deren Angehörigen schlägt, sondern auch für ihre Arbeitskolleginnen
und Kollegen. Und als ich sie frage, was sie tun würde, um die Verweildauer von
Pflegenden am Bett zu erhöhen, muss sie nicht lange nachdenken.
«Das
Wichtigste ist ein guter Ausgleich, egal was, Hauptsache etwas, das den Fokus
auf etwas anderes lenkt und bei dem aufgetankt werden kann. Um das zu
ermöglichen, muss das Arbeitspensum angepasst werden. 100% zu arbeiten
verunmöglicht die Selbstpflege, respektive verhindert, ein wirksames
Gegengewicht zu pflegen.» Ebenfalls ist es aus ihrer Sicht unabdingbar
fürsorglich mit sich selbst umzugehen. Die eigenen Grenzen zu kennen und diese
auch zu setzen. Das bedeute, auch mal Nein zu sagen. Als Teammensch sieht sie auch dort
viel Potential. Sie legt viel Wert auf einen Umgang auf Augenhöhe, auf das
Arbeiten Hand in Hand und die Anerkennung der verschiedenen Berufsgruppen. «Nur
gemeinsam sind wir stark und können die hohen Anforderungen unseres Alltags
meistern.»
Danke,
liebe Sibylle, dass Du mir Dein fürsorgliches Mutterherz geöffnet hast.
Madame
Malevizia
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