Dienstag, 27. Oktober 2020

Ein Erdbeben im Gesundheitswesen

 

«Es gab diejenigen, die in Covid-Spitälern tätig sein mussten, auf Intensivstationen, wo die psychische und physische Belastung sicher sehr gross war», dieses Statement hat Frau Ruth Humbel gestern in einem Beitrag zur Aktionswoche der Pflegenden abgegeben. Ich möchte dieses aufnehmen, da sie nicht die einzige ist, die immer wieder betont, dass es doch nur die Pflegenden auf den Intensivstationen oder den «Covidspitälern» gewesen seien, die in diesem Frühjahr belastet gewesen seien. Diese Annahme oder Behauptung ist schlicht falsch. Covid- 19 ist und war kein lokaler Sturm es ist ein Erdbeben im Gesundheitswesen.

Genauso wie der Rest der Bevölkerung, wussten auch wir Pflegenden nicht, was auf uns zu kommt. Während viele um ihre Existenz, ihre Gesundheit oder die ihrer Liebsten fürchteten, hatten wir Pflegenden die Bilder unserer Nachbarländer vor Augen. Würden wir ebenso überrollt werden?

Vielerorts wurden 12. – Stundenschichten eingeführt. Solch lange Schichten gehen unweigerlich an die körperliche Substanz, da die Ruhezeit einfach zu kurz ist. Erschöpftes Pflegepersonal ist gefährlich, egal in welchem Setting.

Pflegende sind keine unsterblichen Superhelden. Sie sind einfach nur Mensch. Auch sie können sich mit Covid- 19 anstecken oder auch sonst krank werden. Es braucht nicht viel Vorstellungsvermögen um nachzuvollziehen, was Krankheitsausfälle in dieser Situation bedeuten. Zu Beginn der Pandemie fehlte vielerorts Schutzmaterial, was bedeutete, dass sich die Pflegenden zusätzlich noch exponierten.

Intensivspflege, die Epi- Zentren

Die Intensivstationen sind bestimmt die Epi – Zentren der Krise. Covid – 19 Patienten sind lange sehr krank und äusserst Behandlungs- und Pflegeintensiv. So braucht es beispielsweise 4 – 5 Personen, um einen beatmeten Menschen auf den Bauch oder zurück zu drehen. Nicht nur Covid- Patienten sind auf Intensivpflege angewiesen, auch andere Krankheitsbilder und nicht zu vergessen Unfälle bedürfen der Intensiv – Pflege und sind nicht unbedingt «aufschiebbar». Durch die «langliegenden» Covid- Patienten ist die Bettenkapazität der Intensivstationen noch limitierter als sonst. Und was passiert, wenn eine Intensivstation keine freien Betten mehr hat? Es geht ja nicht nur um das «physische» Bett mit dazugehörigen Apparaturen, es geht um die Ressource Pflegefachperson FA Intensivpflege, die massgebend ist, wie viele Intensivpflegebetten betrieben werden können. Dann trifft es eben auch die Bettenstationen.


 

Die stationäre Pflege

Sind die Intensivbetten voll oder nahezu voll, müssen Patienten auf die Normalstationen verlegt werden, auch wenn sie noch nicht ganz so stabil sind, wie sie sollten. «Gott gebe, dass es klebe», ist da das Motto. Die Betreuung dieser Patienten auf den Bettenstationen ist hochkomplex. Ebenfalls verbleiben auf den Bettenstationen Patienten, die so instabil sind, dass sie auf eine Intensivstation gehören würden. Dies bedeutet für die Pflegenden einen deutlichen Mehraufwand. Engmaschiges Überwachen, reagieren auf den sich schnell ändernden Allgemeinzustand des Patienten. Es ist sehr belastend, zuzusehen, wie sich ein Zustand immer weiter verschlechtert, zu wissen, dass ein Patient erst dann von der Intensivstation übernommen werden kann, wenn er kurz vor der Reanimation steht. In solchen Situationen kommen die anderen Patienten, die ebenfalls Betreuung/Pflege brauchen, einfach zu kurz. Es kann durchaus sein, dass dadurch Anzeichen von Komplikationen nicht frühzeitig erkannt und behandelt werden können. Ein Spiel mit dem Feuer oder sollte ich sagen, mit dem Tod?

Seit dem Frühjahr schwebt Covid – 19 wie ein Damoklesschwert über unseren bereits schwer kranken und geschwächten Patienten. Den Pflegenden ist klar, wenn bei einem Menschen nach einer grossen Operation, einem Menschen, dem gerade ein Organ transplantiert wurde oder einem Menschen, der gerade gegen Krebs kämpft, noch ein schwerer Verlauf von Covid- 19 dazu kommt, ist das wahrscheinlich das Todesurteil. Schon deshalb müssen Pflegende doppelt und dreifach aufmerksam sein. Die Hygieneregeln müssen peinlichst genau eingehalten werden. Das erfordert Konzentration, Konsequenz und ein weiteres Mal Zeit. Positiv Getestete oder Verdachtsfälle müssen isoliert werden. Auch diese Massnahmen müssen von den Pflegenden eingeleitet und umgesetzt werden.  

Die Notfallpflege

Den meisten Notfallstationen ist ein sogenannter Covid – Track angegliedert worden. Dieser hat vor allem einen Zweck. Menschen mit Covid – Verdacht schnell testen zu können und das Ansteckungsrisiko für andere möglichst gering zu halten. Diese Covid- Traks wurden teilweise auch noch mit dem Personal der Notfälle betrieben. Also neben dem gesamten «Normalbetrieb», in dem es mitunter auch um Leben und Tod gehen kann, musste auch das noch gestemmt werden. In den Notfall kommen verschiedenste Menschen und nicht immer können diese Massnahmen, wie Maskenpflicht, Beschränkung der Begleitpersonen, Isolation etc. nachvollziehen. Es sind die Pflegenden des Notfalles, welche die Emotionen darauf auffangen und die Massnahmen dennoch durchsetzen müssen.

Die Langzeitpflege

Mit dem Besuchsverbot ist während des Lockdowns eine essentielle Ressource der Bewohnerinnen und Bewohner von einem Tag auf den anderen komplett weggebrochen. Das allergrösste Problem dabei: Angehörige, geliebte vertraute Menschen sind unersetzlich! Dennoch haben die Pflegenden versucht, alles ihnen Mögliche zu tun, um das aufzufangen. Dabei haben sie nicht nur die Bewohnerinnen und Bewohner betreut, sondern auch die Angehörigen. Man könnte jetzt denken, ja die Angehörige konnten ja ihre Liebsten anrufen. Ja machen Sie mal, bei einer dementen Frau, einem schwerhörigen Mann. Diese Menschen brauchen auch da Unterstützung und das benötigt wieder zusätzliche Zeit. Nach dem Lockdown musste ein strenges Hygienekonzept umgesetzt werden, welches auch die Besucher betraf. Nicht jeder Besucherin und jedem Besucher war dieses verständlich. Vielerorts mussten endlose Diskussionen über Maskenpflicht und Kontaktdaten geführt werden. Ich möchte nicht wissen, was meine Kolleginnen und Kollegen sich da teilweise anhören mussten.

 

Die ambulante Pflege

Polikliniken wurden teilweise geschlossen oder das Angebot stark reduziert. Die Pflegenden waren aber nicht in Kurzarbeit, sondern wurden auf andere Stationen verteilt. Der Wechsel von der ambulanten in die stationäre Pflege ist eine echte Herausforderung, wenn nicht sogar Überforderung. Durch das reduzierte Angebot der Polikliniken mussten komplexe und zeitintensive Verbände von der Spitex übernommen werden.

 

Die spitalexterne Pflege

Für viele ihrer Klientinnen und Klienten waren sie teilweise die einzige Kontaktperson, die zu ihnen nach Hause kam. Es mussten zusätzliche Betreuungsdienste geleistet werden, die teilweise auch nicht richtig bezahlt werden. Die nun geltenden Hygienevorschriften, die Klientinnen und Klienten, sowie die Pflegenden schützen, müssen in den Haushalten umgesetzt werden. Da ist viel Kreativität und Fingerspitzengefühl gefragt.

 

Die Geburt- und Wöchnerinnenbetreuung

Die Spitäler entliessen die Wöchnerinnen möglichst schnell nach Hause, um auch da das Ansteckungsrisiko klein zu halten und auch um Betten frei zu haben. Die Mütter mussten alleine durch die Geburt, aufgrund des absoluten Besuchsverbots. Das ging nicht spurlos an ihnen vorbei und es waren die Pflegenden in der ambulanten Wöchnerinnenbetreuung, die diese Mütter dann auffingen. Gleichzeitig musste aber das ambulante/ aufsuchende Setting dieser Pflegenden reduziert werden, da auch sie ein hohes Risiko Covid 19 zu verbreiten darstellten. Und das, obwohl auch die Grosseltern der Neugeborenen als Ressource wegfielen. Eigentlich die Quadratur des Kreises. Dies stürzte sowohl die stationär als auch die ambulant tätigen Pflegenden in grosse ethisch moralische Dilemmata. Die dort erlebten Geschichten sind bis heute nicht verarbeitet.

 

Die psychiatrische Pflege

Psychisch Kranke welche einen stationären Aufenthalt benötigen, sind äusserst vulnerabel. Es ist nicht schwierig, sich vorzustellen, was die Covid- Pandemie in ihnen auslöst: Ängste, psychotisches Erleben, Depressionen und Aggressionen wurden um ein Vielfaches verstärkt. Wichtige Instrumente, wie Millieutherapie, Sozialtraining und Gesprächsgruppen konnten zum einen wegen der notwendigen Hygienemassnahmen und zum anderen wegen des Personalmangels nicht mehr durchgeführt werden. Dies sorgte für eine deutliche Zunahme von Kriseninterventionen jeglicher Art. Zudem mussten sich die Pflegenden auch mit Schutzmassnahmen und Covid- Abklärungen auseinandersetzen. Es ist eine grosse Herausforderung, diese im stationären Psychiatrie – Setting zu managen. Was in der somatik die Intensivstationen sind, sind in der Psychiatrie die Psychiatriestationen. Ebenso wie in der Somatik wurden nur noch die absoluten Notfälle aufgenommen. Für die ambulante Psychiatriepflege bedeutete das, schwierigste Situationen zu managen. Auch hier sollten direkte Kontakte möglichst vermieden werden. Vieles musste über das Telefon gemacht werden, was sonst einen 1:1 Kontakt bedingte. Schätzen Sie mal den psychischen Zustand eines Menschen über das Telefon ein. Oder führen sie eine fundierte Krisenintervention durch. Weder im stationären noch im ambulanten Bereich wurde der Personalschlüssel aufgestockt. Wie auch, ist ja keiner da, den man rekrutieren könnte.

 

Fazit

Covid – 19 hat das ganze Gesundheitswesen erschüttert und nach der ersten Welle einige Risse hinterlassen. Viele Pflegenden sind erschöpft und haben das alles noch gar nicht verarbeitet. Hinzu kommt die Wut darüber, dass wir Pflegenden nach dieser Welle im Regen stehen gelassen wurden. Über uns, oder darüber wie man so in die Pflege investieren kann, dass eine 2. 3. 4. Welle von den Gesundheitseinrichtungen aufgefangen werden könnte, hat im Sommer kaum jemand gesprochen. Schon gar nicht die Politik. Das würde nämlich bedeuten, dass diese sich reflektieren und entsprechend handeln müsste. Es würde bedeuten, anstatt bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit zu betonen, dass es ja leere Spitäler gab, darüber nachzudenken, wie die Last verteilt werden kann, um eine Überbelastung der einen und eine Unterbelastung der anderen zu verhindern.

Ich erwarte von der Politik jetzt mehr als nette Worte oder Ausflüchte. Ich erwarte Entscheidungen, ich erwarte, dass jetzt gehandelt wird!

Madame Malevizia.


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